Warum Russland so gefährlich wie immer ist – und die Schweiz so wehrlos wie nie (1)

Putin-Russland ist eine konkrete militärische Bedrohung für Europa und kann nur mit demonstrativer Härte in Schach gehalten werden. Hierfür gibt es drei wesentliche Gründe. Teil 1.

Von Lukas Joos

Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen steigen. Ein mit regulären Truppen geführter Konflikt ist so wahrscheinlich wie nie mehr seit dem Ende des Kalten Krieges. Auch in der Schweiz gibt es Stimmen, die «westliches Säbelrasseln» als Grund für die russischen Truppenverschiebungen sehen und für eine Strategie der «Deeskalation» werben. Diese Sichtweise ist jedoch grundsätzlich falsch. Putin-Russland ist eine konkrete militärische Bedrohung für Europa und kann nur mit demonstrativer Härte in Schach gehalten werden. Hierfür gibt es drei wesentliche Gründe.

Grund 1: Es gilt, was im Kalten Krieg galt

«In Russland ändert sich in zwanzig Jahren alles, aber in 200 Jahren nichts.» Dieser Ausspruch wird oft P. A. Stolypin (1862-1911) zugeschrieben, einem der letzten grossen Staatsmänner des Zarenreichs. Tatsächlich hat Stolypin das Sätzchen nie gesagt. Aber zum geflügelten Wort wurde es trotzdem nicht umsonst. Es ist eine nahezu perfekte Kondensation der russischen Geschichte.

Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion durchlief Russland vermutlich mehr Krisen und Neuausrichtungen als die Schweiz seit 1848. Die Kommunistische Partei, die vor 30 Jahren noch alles Sagen hatte, ist heute absolut einflusslos. Dazwischen liegen die von extremer Armut und Gewalt, aber auch von echter politischer Konkurrenz geprägten Neunziger; dazwischen liegen ein paar stabilere und optimistischere Jahre nach der Jahrtausendwende, und dazwischen liegt auch die seit spätestens 2010 festzustellende, dramatische Re-Totalisierung von Staat und Gesellschaft.

Was hinter diesen wechselnden «Kulissen» unverändert blieb, ist das Wesentliche. Die Zügel des Landes lagen immer in der Hand von Cliquen. Es gab nie freie Wahlen in geordneten Verhältnissen. Es gab nie eine funktionierende Gewaltentrennung, nie eine aufrechte Justiz, nie eine ernsthafte Korruptionsbekämpfung, nie eine konkurrenzfähige Arbeitsproduktivität und nie einen nennenswerten Mittelstand. Aus diesen Gründen gab und gibt es auch keine Politik – und ganz besonders keine Aussenpolitik –, für die westliche Prinzipien wie Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit eine Rolle spielen.

Dies wiederum bedeutet: Der Glaube, der Westen solle oder müsse Putin-Russland anders handhaben als die Sowjetunion, entbehrt jeder vernünftigen Grundlage. Wer genügend Realitätssinn besass, den Kalten Krieg nicht durch einseitige Abrüstung beenden zu wollen, hat heute keinen Anlass, für etwas anderes einzutreten als die Reagan-Doktrin.

Grund 2: Putin ist ein silovik in Reinform

Dass Putin eine lange KGB-Laufbahn hinter sich hat, ist hinlänglich bekannt. Weniger klar sind im Westen die Implikationen hieraus, auch für die russische Aussenpolitik.

Wer Karriere in russischen Militär-, Polizei- oder Staatssicherheitskreisen macht, bekommt gewisse Ansichten und Problemlösungsstrategien eingeprägt. Diese Ansichten und Strategien sind so spezifisch, dass die Russen für ihre Vertreter – oder vielmehr: für ihre Träger – einen eigenen Begriff haben: siloviki. «Siloviki» ist eine Ableitung von «sila», das eine Doppelbedeutung hat. «Sila» kann Kraft und Stärke bedeuten, aber eben auch Gewalt.

Natürlich gibt es auch unter den siloviki unterschiedliche Persönlichkeiten. Als Gruppe unterscheiden sie sich aber in zweierlei Hinsicht deutlich von anderen Arten von Politikern und Funktionären (wie etwa Parteibonzen oder Technokraten). Erstens steht sila bei ihnen fast immer sowohl im Mittelpunkt ihrer Wahrnehmung wie auch ihrer Problemlösungsstrategie. Siloviki analysieren das politische Geschehen primär unter dem Gesichtspunkt, wer wie viel Stärke und Kraft demonstrieren und/oder Gewalt anwenden kann. Und ihr prinzipieller Weg, Probleme zu lösen, ist siloj – das heisst, mittels Kraftdemonstration und/oder Gewaltanwendung.

Das zweite wesentliche Charaktermerkmal der siloviki ist, dass Ideen und Werte für sie eine untergeordnete bis inexistente Rolle spielen. Die allermeisten siloviki sind keine Spinner, die von Grossrussland oder gar von einer neuen Sowjetunion oder einem neuen Zarenreich träumen. Auch maximale Selbstbereicherung steht typischerweise nicht im Zentrum ihres Interesses. Vielmehr ist Macht für sie zu einem hohen Grad Selbstzweck. Sie wollen an die Kontrolle, um sie zu haben, und sie sind an der Kontrolle, um an ihr zu bleiben.

Putin mit seinen eineinhalb Jahrzehnten KGB-Dienst ist ein silovik in Reinform. Und dieser Umstand ist der Schlüssel zum richtigen Verständnis der Krim-Annexion, dem jetzigen Konfrontationskurs und dem zukünftigen Gefahrenpotential des aktuellen Kremlherren.

Die Krim-Annexion orchestrierte Putin weder zum Schutz von Russland noch der Russen, sondern zum Schutz von sich selbst. Als in Kiew prowestliche Unruhen zu einem Problem für die Führungsriege wurden, war Putins Macht in eigenem Land so bedroht wie nie zuvor. Konkret hatte der massive und offensichtliche Betrug bei den Duma-Wahlen Ende 2011 zu einer nie dagewesenen Protestwelle geführt. Auf diese Protestwelle reagierte Putin mit massiver Gewalt und absurden Schauprozessen gegen die «Rädelsführer». In den Monaten vor dem Maidan war Putin vor allem in den grossen Städten seines Landes überaus unbeliebt.

Putin erkannte Ende 2013 korrekt, dass die prowestlichen Erhebungen von Kiew nach Moskau überschwappen könnten. Er reagierte, indem er aussenpolitisch Stärke demonstrierte und Gewalt anwendete. Seine Rechnung ging auf. Die auch propagandistisch meisterhaft orchestrierte Krim-Annexion liess seine Popularitätswerte nicht nur im Inland sprunghaft ansteigen. Sogar im Westen fiel sein Narrativ auf fruchtbaren Boden. Während bis 2013 selbst in Russland nur ein paar versprengte Politclowns die ukrainische Souveränität anzweifelten, begann man nach 2014 sogar in Deutschland – und leider auch in der Schweiz – wieder davon zu reden, dass die Ukraine eigentlich (zu) Russland gehöre.

Die jetzigen Truppenmassierungen geschehen nach genau denselben Regeln des zynischen Machterhaltes. In den letzten Jahren hat sich die Wirtschaftslage in Russland noch einmal erheblich verschlechtert. Putin hat seinem Volk schon lange nichts mehr zu bieten. Dass unter seiner Herrschaft irgendwann mal noch irgendwas besser wird, glaubt in Russland niemand, der auch nur halbwegs bei Verstand ist.

Dass Putin jetzt die Konfrontation sucht, liegt nicht daran, dass er sich plötzlich mehr vor dem Westen ängstigt. Es liegt daran, dass er sich plötzlich wenigerängstigt. Mit Biden im Weissen Haus und Grossbritannien ausserhalb der EU ist Westeuropa so schwach und zimperlich wie vielleicht noch nie.

Der silovik im Kreml geht ganz einfach davon aus, dass ein zweiter Coup à la Krim-Annexion im Moment zu einem seltenen Rabattpreis zu haben ist. Bis jetzt behielt er Recht. In den vergangenen Monaten gab ihm der Westen unzweideutig zu verstehen, dass Kriegshandlungen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohne harte Folgen blieben.

Wie weit der ehemalige KGB-Offizier noch gehen wird, hängt einzig und alleine davon ab, mit wie viel westlicher sila er als Reaktion auf sein Handeln rechnet. Wichtig dabei zu verstehen ist, dass es ihm nicht im Geringsten um die Ukraine geht. Die Ukraine ist Putin so egal wie Finnland, Polen oder ein x-beliebiges anderes Land. Wenn er zum Schluss kommt, zur Sicherung seiner Macht sei ein Angriff vorteilhafter als ein Nicht-Angriff, dann greift er an. Sonst nicht.

Wer meint, in dieser Situation solle der Westen «deeskalieren», macht den schwersten Fehler eines sehr berühmten Mannes. Jenes Mannes, der meinte, weiter als das Sudetenland würde Herr Hitler nie gehen.

Grund 3: Der Feedback-Loop

Putin ist, wie erwähnt, kein ideologisch Verblendeter. Dementsprechend ist er auch kein fanatischer Anti-Westler. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass er je länger, je mehr zu einem wird. Grund dafür ist eine Art Feedback-Loop. Dieser Feedback-Loop ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Putins Propaganda und seiner Brutalo-Herrschaft.

Putins Propaganda ist nicht nur ungleich effektiver als die sowjetische. Sie ist auch viel aggressiver. Als Chefpropagandist fungiert seit acht Jahren D. K. Kisseljow. Kisseljow ist ein geifernder Halbirrer vom Typ Julius Streicher; berühmt wurde er unter anderem dadurch, dass er in einer Talkshow mit hasserfüllter Stimme verkündete, die Herze von tödlich verunfallten Homosexuellen seien ungeeignet, um menschliches Leben fortzusetzen, und müssten verbrannt oder vergraben werden.

Kisseljows «Berichterstattung» über den Westen und die Nato ist dementsprechend. Während der Krim-Annexion verkündete er in seiner Wochenschau, dass Russland das einzige Land auf der Welt sei, dass fähig ist, «die USA in radioaktive Asche zu verwandeln». Auf den Hintergrundbildschirm des Studios wurde dazu ein Atompilz eingeblendet.

Letzte Woche erklärte Kisseljow im gleichen Sendegefäss, der Nato-Generalsekretär habe den Bezug zur Realität verloren. Er erweckte den Eindruck, die Nato plane einen atomaren Erstschlag gegen Russland und die Biden-Administration behaupte, das Gas fliesse von Westeuropa nach Russland. Zudem liess er sich eine Bemerkung über die Ukraine als «Hahnenstall» nicht nehmen. «Hahn» («petuch») ist eine vulgär-abwertende Bezeichnung für passive Homosexuelle.

Das Problem ist nicht, dass Putin diese Propaganda nicht durchschaut. Im Gegenteil: Er gibt sie ja in Auftrag. Die Gefahr liegt vielmehr darin, dass die primitive, paranoide Dauerbeschallung das «offizielle» Narrativ wiedergibt – und Putin keinen Widerspruch duldet.

Wer sich Putin widersetzt, wird nicht kritisiert. Er muss sich vielmehr auf Enteignung, Demütigung, Gewalt, Gefängnisstrafen oder gar auf den Tod gefasst machen. Und zwar nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinen Angehörigen. Seit der Verhaftung von Boris Chodorkowski sind es fast 20 Jahre her; seit der Ermordung von Boris Nemzow sieben; seit der versuchten Ermordung von Alexei Nawalny knapp zwei, seit dem Schauprozess gegen seinen Bruder knapp acht.

Weil jeder in Putins Apparat weiss, dass Kisseljow Putins Marionette ist, sind die Anreize, in der Gegenwart Putins an Kisseljows Propaganda zu zweifeln oder ihr gar explizit zu widersprechen, äusserst gering. Dies hat zur Folge, dass Putin zu einem gewissen Grad in einem Informationsvakuum beziehungsweise in einer mit seiner eigenen Propaganda angefüllten Blase lebt.

Wirkte sich dieses Vakuum nicht auf Putins Beurteilung der Weltlage aus, wäre er der einzige Mensch der Welt, dessen Denken völlig unabhängig von den Informationen funktioniert, die er über Drittpersonen aufnimmt oder eben nicht aufnimmt. Dass routinemässiger Betrug ganz allgemein ein Risikofaktor für Paranoia ist, kommt dazu.

Mit anderen Worten: Solange Putin an der Macht ist, bleibt Russland eine Gefahr für den Westen. Man kann sie nicht entschärfen. Man kann sich nur wappnen gegen sie.

Zu Teil 2

Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 3. Februar 2022