Die Schweiz ist immer weniger in der Lage, sich militärisch zu verteidigen. Das liegt nicht primär an veralteten Kampfflugzeugen und Schützenpanzern, sondern hat drei tieferliegende Gründe. Teil 2.
Von Lukas Joos
Grund 1: Ohne Moral keine Kampfmoral
«Überrascht» sei er gewesen, sagte Bundesrat Ueli Mauer letzten Donnerstag gegenüber SRF. Über die Invasion der Ukraine herrsche «Ratlosigkeit» im Bundesrat. Ratlosigkeit, aber offenbar keine Erklärungslosigkeit. «Russland hat sich gedemütigt gefühlt nach dem Fall der Berliner Mauer», führte Maurer aus, «und in der Geschichte ist es oft zu einem Konflikt gekommen, wenn jemand gedemütigt worden ist.»
Weil vor dreissig Jahren eine deutsche Mauer fiel, fällt jetzt russische Artillerie in ukrainische Wohnblöcke. Und das überraschend, nachdem Putin monatelang Truppen aufmarschieren liess, während seine Propaganda von Genozid halluzinierte.
Am Tag nach den Pariser November-Attentaten gab der damalige FDP-Bundesrat und Aussenminister Didier Burkhalter dem Blick ein Interview. Was war nun zu tun, um weitere solche Blutbäder zu verhindern? Burkhalter wusste Bescheid: «Wir müssen unsere Anstrengungen verstärken, um die Konflikte politisch zu lösen.» Offenbar waren die 130 Konzert- und Restaurantbesucher ermordet worden, weil sie auf einer militärischen Lösung des Konfliktes bestanden hatten.
Stand März 2022 beruht die Vision der offiziellen Schweiz zur «Lösung des Nahostkonfliktes» auf einer «Zwei-Staaten-Lösung» mit einer «Grenzvereinbarung auf der Basis von 1967.» Natürlich: Beseelt von der Idee «Land für Frieden» zog sich Israel 2005 einseitig aus dem Gazastreifen zurück. Daraufhin wählten die Palästinenser die Hamas an die Macht, eine Terrororganisation, die den Genozid an den Juden in ihrer Satzung hat. Die Hamas verwandelte den Gazastreifen in eine gigantische Raketenabschussrampe und verwickelte Israel bisher in mindestens drei Kriege.
Aber die Nahostexperten des EDA haben gewiss trotzdem Recht. Dass der ewige Nahostfrieden noch nicht ausgebrochen ist, muss daran liegen, dass Israel der muslimischen Welt immer noch zu viel Platz wegnimmt. Wenn es sich auch noch aus Judäa und Samaria zurückzieht, dann brockt es sich damit keinen zweiten Gazastreifen ein. Nein, dann wird alles gut.
Der Schaden des moralischen Relativismus
Die Schweizer Mehrheitsgesellschaft – auch die bürgerliche – ist paralysiert vom Virus des moralischen Relativismus. Sie glaubt nicht mehr, dass es objektives Gut und Böse gibt. Genau darum lässt sie jeder Barbarenakt von neuem überrascht und ratlos zurück. Genau darum sucht sie nach jeder unprovozierten, durch nichts zu rechtfertigenden Attacke die Schuld reflexartig bei sich.
Wenn es das objektiv Böse nicht gibt, dann ist es schliesslich unmöglich, dass einen der Feind aus purer Bosheit anfällt. Seiner Aggression muss irgendetwas anderes zugrunde liegen – ein Missverständnis, eine Demütigung, eine islamophobe Diskriminierung, ein paar Quadratkilometer fehlendes Land. Nichts jedenfalls, was sich durch einen grosszügigen Deeskalationskompromiss nicht wieder geradebiegen liesse.
«Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit», sagte der ukrainische Präsident Selenskij, als ihm die Amerikaner anboten, ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Was hätte Burkhalter gesagt? «Ich brauche eine politische Lösung, keine Munition»? Ohne (absolute) Moral gibt es keine Kampfmoral. Solange die Schweizer Mehrheitsgesellschaft den moralischen Relativismus nicht auf den Müllhaufen der Ideengeschichte wirft, hat sie schlechte Karten, einen Verteidigungskrieg auszuhalten.
Grund 2: Die teilbewaffnete Neutralität
Der Tenor von Bürgerlichen und armeefreundlichen Kreisen lautet einhellig: Die Invasion hat uns gezeigt, dass wir den F-35 brauchen. Die Invasion hat uns gezeigt, dass wir das Geld für den Werterhalt unserer Schützenpanzer sprechen müssen.
Diese Verlautbarungen sind aller Wahrscheinlichkeit nach falsch. Bis dato deutet meines Wissens nichts darauf hin, dass eine veraltete ukrainische Luftwaffe oder nicht einsatzbereite ukrainische Schützenpanzer Putin zum Angriff bewogen haben oder für die russischen Geländegewinne von entscheidender Bedeutung waren. Das Einzige, was die Invasion bis jetzt ganz sicher «gezeigt» hat, ist etwas ganz anders. Sie hat gezeigt, dass für neutrale Demokratien eine bloss teilbewaffnete Neutralität keine valable Option ist.
Der Fehler der Ukraine
Ukraine gab 1994 seine Atomstreitkräfte auf – für die Anerkennung seiner Souveränität und territorialen Integrität unter anderem durch Russland. Fünf Jahre später unterzeichnete es die Ottowa Convention. Damit verpflichtete es sich, Antipersonenminen aus seinem Arsenal zu nehmen (Russland unterzeichnete nie).
Die Vorstellung, Putin hätte die Invasion befohlen, wenn Ukraine noch atomar zurückschlagen könnte, ist abwegig. Jetzt legt er ukrainische Wohnquartiere in Schutt und Asche. Und kommt es zum Häuserkampf in ukrainischen Städten, müssen seine Truppen eine der demoralisierenden Widerstandsformen nicht befürchten, auf die ein Angreifer stossen kann: die fachmännische Kombinierung von Sprengfallen und Scharfschützenfeuer.
Falsche Selbstbeschränkung
Das ist kein Argument dafür, dass die Schweiz Atomwaffen oder Antipersonenminen beschaffen sollte. Es ist vielmehr der Beweis dafür, dass sie die Beschaffung und die Entwicklung jeder Art von Waffen frei und sachlich debattieren können muss. Genau dies ist aber nicht der Fall. So betreibt die Armasuisse zum Beispiel «bewusst keine Forschungsprojekte zum Nutzen von unbemannten Waffensystemen», weil sie «den bewaffneten, autonomen Einsatz von Vehikeln (…) nicht zuletzt aus völkerrechtlichen und moralischen Gründen nicht unterstützt». Das heisst: Zur Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaat kommen bestimmte Waffentypen gar nicht mehr erst in Frage.
Für ein Land wie die Schweiz ist diese Art von Selbstbeschränkung besonders gefährlich. Als westliches Mikro-Land ist sie so etwas wie der kleinwüchsige, extrovertierte Homosexuelle unter den Staaten. Sie hat keine Chance, gewaltbereite Gruppen auf Schwulenhatz in einem Boxkampf zu besiegen. Dementsprechend aufgeschlossen muss sie sein für «unfaire» und «hässliche» Techniken und Strategien. Sie muss Tritte in die Genitalien und Schläge zum Kehlkopf beherrschen. Sie muss sich dafür interessieren, welchen Alltagsgegenstand man am besten zu welcher Behelfswaffe umfunktionieren kann.
Die Entwicklung geht leider in die gegenteilige Richtung. Das Narrativ der Bürgerlichen lautet, wie erwähnt, dass die Invasion beweise, dass man bestimmte «konventionelle» Waffensysteme erneuern beziehungsweise werterhalten müsse. Das muss man natürlich, aber nicht wegen der Invasion. Man muss es, weil man eine Armee hat. Wer eine Feuerwehr will, tauscht spröde Schläuche und veraltete Atemgeräte aus. Bei der Armee ist es dasselbe – es ist nicht wirklich kompliziert.
Es gibt keine «bösen» Waffen
So wie es in der Selbstverteidigung keine guten und bösen Techniken gibt, gibt es im Krieg keine guten und bösen Waffen. Durch den Verzicht auf «böse» Waffenarten macht eine Armee keinen moralischen Gewinn. Die Moralität liegt nicht bei der Waffe, sondern beim Anwender. Wer Kriegsgefangene tötet, begeht ein Verbrechen – egal, ob er es mit einer «guten» Handgranate oder einer «bösen» Springmine tut.
Verabschiedet sich die hiesige Sicherheitspolitik nicht bald vom imaginären Unterschied zwischen «bösen» und «nicht-bösen» Waffen, verkommt die Schweiz je länger, desto mehr zu einem teilbewaffnet neutralen Land. Und das kann sich, wie wir gerade vorgeführt bekommen, in dramatischer Weise rächen.
Grund 3: Die Pseudo-Milizarmee
Die Schweizer Armee ist eine Verteidigungsarmee. Die Aufgabe des Soldaten ist es, Leib, Leben, Freiheit und Besitz von sich und seinen Mitmenschen zu schützen, und zwar vor vorsätzlich verübter Gewalt. Dem bürgerlichen Narrativ zufolge ist die Schweizer Armee wegen drei Eigenschaften eine Milizarmee:
- Es besteht Militärdienstpflicht.
- Der Bürger leistet seinen Beitrag zur Landesverteidigung gerne.
- Der Bürger hat seine Waffe zuhause.
Russland kennt die Militärdienstpflicht auch. Nicht wenige seiner gehirngewaschenen Soldaten leisten ihren Beitrag zur «Entnazifizierung» des Nachbarlandes gerne. Und doch käme es niemandem in den Sinn, die russische Armee als Milizarmee zu bezeichnen. Den Unterschied macht der dritte Punkt: Dass der Bürgersoldat auch im Zivilleben bewaffnet ist.
Die Schuld der Bürgerlichen
Das ist er allerdings längst nicht mehr. Schuld sind die Bürgerlichen. Die Bürgerlichen stören sich nicht daran, dass der Soldat keine Munition zu seinem Gewehr mehr erhält. Sie stören sich nicht daran, dass er beim Einrücken seine ungeladene Waffe halbzerlegt mit sich führen muss, als ob er sonst eine für seine Mitreisenden unzumutbare Gefahr wäre.
Sie stören sich auch nicht am zivilen Waffentragverbot, obwohl dieses «Gratisgewalt» gegen Unbeteiligte begünstigt. Sie stören sich nicht daran, wenn offizielle Kriminalitätspräventionsstellen wider alle wissenschaftliche Evidenz vom Waffengebrauch zur Notwehr abraten. Sie stört sich nicht daran, dass progressive Kreise den zivilen Besitz und Gebrauch von Waffen zur Gefahr für die Allgemeinheit umgedeutet haben. Kurz: Sie stören sich nicht daran, dass der wackere Milizsoldat gedrängt wird, sich im Angesicht von Gewaltkriminalität zurückzuziehen, keinen Widerstand zu leisten und ja nicht zur Waffe zu greifen – also genau das Gegenteil dessen zu tun, was im Angesicht von militärischer Gewalt von ihm erwartet wird.
Es ist noch keine dreissig Jahre her, dass Bundesrat Arnold Koller verkündete, das Recht auf Waffentragen sei eigentlich nur die Kehrseite der Militärdienstpflicht. Warum die Bürgerlichen den zivilen Waffengebrauch – und die Gewaltprävention im Allgemeinen – den Progressiven überlassen haben, ist mir nicht klar.
Sicher ist hingegen: Der Alltag prägt die Wahrnehmung der Bürger. Wem beigebracht wird, dass er sich im Alltag nicht wehren soll und darf, dass Waffen im Alltag nicht schützen, sondern töten, für den wird es nicht einleuchtend sein, warum er sich in Uniform wehren soll und muss.
Folgen für die Militärpflicht
Denkt die bürgerliche Sicherheitspolitik in Sachen zivile Selbstverteidigung nicht um, wird sich der Graben zwischen Armee und Zivilleben vertiefen. Das Verständnis für die Nicht-Delegierbarkeit der Abwehr von äusseren Feinden wird abnehmen («Die Polizei schützt uns» – «die Berufsarmee schützt uns»). Und damit früher oder später auch die Militärdienstpflicht fallen.