Wenn «weniger Waffen» wichtiger ist als «weniger Vergewaltigungen»

Die Fachstelle Schweizerische Kriminalprävention rät, sich bei einem Vergewaltigungsversuch mit Gewalt zu wehren aber ja nicht mit einer Waffe. Dies sei für das Opfer gefährlicher als für den Täter. Die Forschung belegt das exakte Gegenteil.

Von Lukas Joos

Im Jahr 2020 wurden schweizweit 646 vollendete Vergewaltigungen registriert – ein Rekord. Rechnet man, konservativ, mit dem Dunkelzifferfaktor 3, kommt man auf knapp 2’000 Fälle. Real sind es nur schon deswegen deutlich mehr, weil in der Schweiz nur die erzwungene vaginale Penetration als Vergewaltigung gilt. Orale und anale Vergewaltigungen werden als blosse sexuelle Nötigungen aufgefasst.  

Vergewaltigung ist ein alltägliches Verbrechen, und ein für die Opfer überaus gravierendes. Dementsprechend wichtig ist es, dass potentielle Opfer wissen, wie sie bei einem Vergewaltigungsversuch am besten reagieren. Die «offiziellsten» Ratschläge zum Schutz vor Kriminalität erteilt in der Schweiz die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren, und zwar über die von ihr getragene Fachstelle Schweizerische Kriminalprävention (SKP). 

Der SKP-Ratschlag für Opfer eines sexuellen Angriffes lautet wie folgt: «Schreien Sie laut, beissen Sie, reissen Sie sich los, schlagen Sie um sich, treten und boxen Sie, wenn Sie angegriffen werden. Gegenwehr ist der sicherste Weg zur erfolgreichen Abwehr sexueller Gewalt.»

Gewalt hui, Waffen pfui?

Wie sich verschiedene Formen von Selbstschussmassnahmen auf den Ablauf von Gewalt- und Sexualdelikten auswirken, eruiert man, indem man systematische Opferbefragungen auswertet. Die von der SKP empfohlenen Schutzmassnahmen werden in den meisten dieser Auswertungen als gewaltsame, körperliche Gegenwehr kategorisiert. 

Dass diese Form von Gegenwehr die sicherste Methode ist, einen Vergewaltigungsversuch abzuwehren, ist seit etwa zwanzig Jahren unbestritten. Erstens steht fest, dass sie das Risiko, vergewaltigt zu werden, wirksamer mindert als andere Formen des Selbstschutzes (wie etwa verbale Reaktionen oder passiver körperlicher Widerstand). Und zweitens ist mittlerweile auch erwiesen, dass Opfer, die sich gewaltsam gegen einen Vergewaltiger wehren, dadurch kein signifikant höheres Risiko eingehen, nicht-sexuelle Verletzungen zugefügt zu bekommen. Die Aussage der SKP, gewaltsame Gegenwehr sei die beste Option gegen Vergewaltigungsversuche, trifft zu. 

Doch wenn sich Gegenwehr so empfiehlt: Wie steht es dann mit der Verwendung von Instrumenten, die Gegenwehr erleichtern? Der gesunde Menschenverstand liesse vermuten, sich mit einer Waffe zu wehren sei der «Königinnenweg». Gemäss SKP ist jedoch das genaue Gegenteil richtig: «Aus polizeilicher und präventiver Sicht ist von einer Anschaffung einer Schusswaffe zum Selbstschutz dringend abzuraten! (…) Eine Waffe kann ungeübten Händen schnell entrissen und vom Angreifer gegen einen selbst eingesetzt werden.»

Die Pauschalität dieser Äusserungen ist bemerkenswert. Zwar wird zwischen «geübten» und «ungeübten» Händen unterschieden. Aber die dringende Warnung mit Ausrufezeichen bezieht sich auf alle Hände gleichermassen. Mit anderen Worten: Laut SKP sollten selbst Polizistinnen, die in der Freizeit eine verdeckte Waffe tragen, diese besser im Holster lassen, wenn sie sexuell angegriffen werden.

Ignore the Science!

Bewaffnete Gegenwehr ist nichts anderes als eine Unterform von gewaltsamer, körperlicher Gegenwehr. Die Unterschiede zwischen bewaffneter und unbewaffneter gewaltsamer, körperlicher Gegenwehr sind weniger gut untersucht als die Unterschiede zwischen gewaltsamer, körperlicher Gegenwehr und anderen Arten von Selbstschutzmassnahmen. Ein durchaus solides Evidenz-Fundament besteht aber dennoch.

Die Folgen von bewaffneter Gegenwehr gegen Vergewaltigungsversuche wurden bisher in sechs verschiedenen Studien untersucht. Die älteste dieser Studien wurde 1975 publiziert, die aktuellste 2014. Ihre Ergebnisse sind alles andere als schwierig zu interpretieren. 

Waffengebrauch gegen Vergewaltiger – eine gute Idee oder nicht? Die Ergebnisse der Forschung im Detail

Keine der sechs Studien kommt zum Schluss, mit bewaffneter Gegenwehr auf einen Vergewaltigungsversuch zu reagieren erhöhe das Risiko, vergewaltigt zu werden. Fünf Studien zeigen im Gegenteil, dass Waffengebrauch das Risiko signifikant senkt. Diese fünf Studien weisen ebenfalls aus, dass Waffengebrauch das Risiko stärker senkt als die von der SKP empfohlenen waffenlosen Techniken. Vier Studien legen zudem sehr nahe, dass bewaffnete Gegenwehr einen beinahe vollständigen Schutz vor dem Vollzug einer Vergewaltigung bietet. 

Untermauert werden diese Ergebnisse durch zwei Studien, die methodologisch korrekt untersuchen, wie sich Waffengebrauch auf das Risiko auswirkt, von einem Vergewaltiger nicht-sexuelle Verletzungen zugefügt zu bekommen. Beiden Studien zufolge stoppt bewaffnete Gegenwehr nicht-sexuelle Gewalt erstens mehr oder weniger komplett und zweitens zuverlässiger als waffenlose Techniken.

Weniger Waffen oder weniger Vergewaltigungen?

Man kann mit gutem Grund fordern, das Phänomen bewaffnete Gegengewalt gegen Vergewaltiger umfassender zu untersuchen. Dies entbindet aber nicht von der Pflicht, die verfügbare Evidenz zur Kenntnis zu nehmen und auf ihrer Grundlage Schlüsse zu ziehen. Im aktuellsten wissenschaftlichen Reader zur Prävention von sexueller Gewalt heisst es nicht umsonst: «Widerstand durch das Opfer mit einer Waffe ist verbunden mit einem verminderten Risiko des Vergewaltigungsvollzuges, aber mit keinen signifikanten Auswirkungen auf das Verletzungsrisiko.»[1]

Es ist offensichtlich: Die Präventionstipps der SKP bezüglich bewaffneter Gegenwehr lassen sich beim besten Willen nicht mit den Fakten vereinen. Und das weiss auch die SKP. Im vergangenen Herbst machte ich die SKP-Geschäftsleitung schriftlich und mündlich auf die zitierte Forschung aufmerksam. Ich bat, mir die wissenschaftlichen Publikationen bekanntzugeben, welche die Haltung der SKP stützen. Die SKP konnte keine einzige Studie nennen. Daraufhin bat ich, mir mitzuteilen, von wie vielen Fällen schweizweit die SKP wisse, bei denen der Täter dem Opfer die Waffe entriss. Die SKP war ausserstande, auch nur einen einzigen Fall zu nennen. Dafür teilte sie mir mit, sie werde die kontraproduktiven Ratschläge «mit Bestimmtheit» nicht anpassen. Die Prävention von privaten Waffenkäufen scheint dringender zu sein als die Prävention von Sexualverbrechen. 


[1] Daris, Christina M./Ullman, Sarah E./Brecklin, Leanne R.: ”It’s Worth the Fight!”: Women Resisting Rape, in: Orchowski, Lindsay M./Gidycz, Christine A. (Hrsg.): Sexual Assault Risk Reduction and Resistance. Theory, Research and Practice, London (Elsevier) 2018, S. 123. 

Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 28. Januar 2022