Ja, das jetzige Asylsystem ist ein Sicherheitsproblem. Nein, es bringt nichts, das ständig zu wiederholen.
Der asylpolitische Status quo ist sicherheitspolitisch unsustainable. Doch auf weitere Debatten über gewaltkriminelle Asylbewerber kann verzichtet werden. Vorbedingung für eine Asylreform ist vielmehr die Erkenntnis, dass es in der Asylpolitik keine Lösungen gibt.
Von Lukas Joos
Man stelle sich vor, jedes Jahr würden zehntausende Schweizer nach Afghanistan flüchten — in ein Land, in dem Schwule mit dem Tod bestraft werden können und unverhüllte Frauen als «fair game» gelten. Einige Schweizer integrierten sich sicher die mit Enthusiasmus. Einige weitere legten der afghanischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber vielleicht eine Art demonstrative Gleichgültigkeit an den Tag. Sicher ist jedoch: Ein beträchtlicher Teil der Schweizer Immigranten würde das moralische Koordinatensystem ihrer Gastgeber zeitlebens kompromisslos ablehnen. Dementsprechend wäre es eine blosse Frage der Zeit, bis sich Schweizer Parallelgesellschaften bildeten; eine militante Opposition gegen viele afghanische Normen nähme zu. Afghanistan sähe sich mit einem Trade-off konfrontiert: Je mehr Einwanderung aus der Schweiz es zuliesse, desto mehr Verwestlichung der Gesellschaft müsste es in Kauf nehmen.
Mit dem gleichen Trade-off, einfach unter umgekehrten Vorzeichen, sind westeuropäische Länder wie die Schweiz konfrontiert. Das liegt nicht nur auf der Hand, sondern wurde — gerade unter dem Eindruck der Migrationswelle von 2015 — auch überzeugend belegt (siehe zum Beispiel hier und hier). Doch auf die politische Realität der Schweiz hat dieser Trade-off keinen Einfluss. Im Gegenteil: Das Schweizer Asylsystem fusst — wie jenes der meisten westeuropäischen Staaten — unverändert auf der impliziten Prämisse, dieser Trade-off existiere gar nicht. Sechs Jahre nach der Kölner Silvesternacht haben die Schweizer Behörden noch immer weder die Handhabe noch den Anspruch, die Immigration aus Ländern wie Afghanistan irgendwie zu dosieren oder zu kontrollieren. Natürlich, die Schweizer Asylprozesse sind straffer und effizienter organisiert als etwa die deutschen oder die schwedischen. Aber das ändert nichts daran, dass die Einreise und der Eintritt in den Asylprozess in der Schweiz unter denselben Bedingungen möglich sind wie in Deutschland und in Schweden: nämlich prinzipiell unabhängig davon, wer man ist, inwiefern man verfolgt wird und wie viele Straftaten man bereits begangen hat.
Davon auszugehen, die Schweiz könne auch ohne grundsätzliche Asylreform verhindern, dass sich die Sicherheitslage mittelfristig jener von Deutschland und Schweden angleicht, scheint angesichts dieser Sachlage wenig schlüssig. Und trotzdem fordert ausser der SVP niemand eine grundsätzliche Asylreform.
Warum ist ein guter Teil von Politik und Medien nicht bereit, die sicherheitspolitische unsustainability des gegenwärtigen Asylsystems zu anerkennen? Die in gewissen Kreisen beliebte Erklärung, schuld sei ein Meer von «Profiteuren», die durch die «Asyl-Industrie» zu Geld und Einfluss kommen, halte ich für unzutreffend. Es gibt sicher Personen, bei denen finanzielle oder machtpolitische Faktoren eine Rolle spielen, sich gegen eine Reform auszusprechen. Aber massgeblich dürfte rationale Kalkulation auch bei ihnen nur in den seltesten Fällen sein. Immerhin lebt in der Schweiz so gut wie niemand in einer bewachten Residenz, und brauchbarer Personenschutz ist auch für die meisten Bundesparlamentarier und Chefredaktoren unerschwinglich. Das heisst: Wer vorgibt, der Beibehalt des asylpolitischen Status quo sei ohne Erosion der Sicherheitslage zu haben, macht gute Miene zu einem Spiel, das auch ihn und seine Familie an Leib und Leben gefährden kann — und das ist etwas, was bestimmt nur die Allerwenigsten aus zynischer Berechnung tun. Massgeblich für den Unwillen breiter Kreise, den Elefanten im Raum zu bemerken, sind meiner Ansicht nach vielmehr zwei ganz anders gelagerte Gründe: ein nebensächlicher und ein hauptsächlicher.
Den nebensächlichen Grund sehe ich in der Kommunikations- und Personalstrategie der SVP. Sachpolitisch hat die SVP in der «Asylfrage» zwar Recht. Aber mit ihrer halt- und niveaulosen Stilisierung von Problemen mit der Asylimmigration zu Problemen mit Migration im Allgemeinen («Ausländerkriminalität!») macht sie es der bürgerlichen Mitte genauso schwer, ihr dieses Recht zu geben, wie mit Dossierverantwortlichen, die ganz offensichtlich nicht aus Sorge um die westlich-pluralistische Gesellschaft handeln wollen, sondern aus fremdenfeindlichem Ressentiment.
Den hauptsächlichen Grund vermute ich in einem geänderten, irrigen Verständnis darüber, worin die Aufgabe der Politiker besteht. Ich kann es zwar nicht belegen, aber ich ginge jede Wette ein, dass die grösste Fraktion im Bundeshaus jene der Parlamentarier ist, die glauben, sie seien gewählt worden, um «Lösungen zu suchen». Die Auffassung vom Politiker als Problemlöser ist in Bezug auf das Asylwesen besonders folgenschwer, weil sich die Probleme in diesem Bereich durch einen besonderen Mangel an «Lösbarkeit» auszeichnen. Real möglich sind im Asylwesen heute bloss zwei Grundalternativen —beide krude und auch nicht im Ansatz zufriedenstellend. Entweder, man zielt darauf ab, die Entwestlichung der Gesellschaft und die Erosion der Sicherheitslage zu verhindern: In diesem Fall muss man (leider) ein Asylregime in Kauf nehmen, das vielen Personen aus nicht-westlichen Gesellschaften, die eine faire Chance auf ein besseres Leben in der Schweiz verdient hätten, diese Chance summarisch verweigert. Oder aber, man setzt sich zum Ziel, dass jeder potentielle nicht-westliche Einwanderer seine faire Chance bekommt: In diesem Fall muss man (leider) ein Asylregime in Kauf nehmen, das Missbrauch generiert, der insbesondere für Frauen, Juden, Ex-Muslime und sexuelle Minderheiten zur konkreten Gefahr wird.
Vor diesem Hintergrund ist klar: Gute Asylpolitik zu betreiben hiesse, das kleinere Übel zu wählen. Aber auch kleinere Übel sind Übel — und die Akzeptanz von Übel keine Option, wenn es Lösungen gibt. Politiker und Journalisten, die an «Lösungen» im Asylbereich glauben, handeln nur konsistent, wenn sie die Forderung nach einer Dosierung und Kontrolle der Asylmigration als hartherzig und unmenschlich ablehnen. Gäbe es den Trade-off zwischen «Fairness» im Asylwesen (also dem Prinzip, dass jeder einreisen und ein Gesuch stellen kann) und Sicherheit im Inneren nicht, hätten sie ja völlig Recht. Mit anderen Worten: Der Reformstau im Asylbereich liegt nicht daran, dass die sicherheitspolitischen Folgen eines «Weiter wie bisher» zu wenig klar wären. Er liegt viel eher an der unzutreffenden Vorstellung, diese Folgen liessen sich «lösen» — also beseitigen, ohne einen Trade-off machen zu müssen.
Solange sich in der bürgerlichen Mitte kein Bewusstseinswandel hinsichtlich der Grenzen des Möglichen in der Asylpolitik vollzieht, wird sich am asylpolitischen Status quo kaum etwas ändern. Ein solcher Bewusstseinswandel wird noch Jahre dauern, vielleicht auch ein Jahrzehnt. In der Zwischenzeit wäre es durchaus kontraproduktiv, in Debatten um die steigenden Quoten von Gewalt- und Sexualstraftaten weiter auf die Probleme im Asylbereich zu fokussieren. Erstens bringt es nichts, ständig zu wiederholen, was im Prinzip sowieso schon alle wissen. Und zweitens lenken Endlosdiskussionen über kriminelle Asylbewerber die Aufmerksamkeit von verschiedenen, tauglichen Massnahmen gegen Gewaltkriminalität, die nichts mit Migration zu tun haben und die dringend einer breiten Auseinandersetzung bedürften. Mehr hierzu in den nächsten Kolumnen.
Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 19. August 2021