Vermeidungsverhalten: Wenn auf der Strasse plötzlich die Frauen fehlen

In verschiedenen westeuropäischen Städten gibt es mittlerweile Gebiete, in denen Frauen nicht mehr zum Strassenbild gehören. Der Grund dafür ist das sogenannte Vermeidungsverhalten, eine weitgehend unbeachtete Folge unkontrollierter Gewaltkriminalität.

Die Zahl der angezeigten Sexualstraftaten steigt in der Schweiz stark an. 2020 wurden zum Beispiel 34% mehr Vergewaltigungen polizeilich registriert als 2015, ein Plus von 181 Fällen. Unterstellt man, sehr vorsichtig, den Dunkelzifferfaktor 3, beträgt die reale Zunahme ceteris paribus 543 Fälle.

Dass hunderte bis tausende zusätzliche Vergewaltigungsopfer weniger Diskussionen auslösen als «gendergerechte» Schreibweisen zur «besseren Sichtbarmachung von Frauen», zeigt deutlich, wie weitverbreitet das Desinteresse gegenüber Opfern von schwerer Gewalt ist. Ein weiterer Beweis hierfür ist die Tatsache, dass, sofern überhaupt über das Gewaltproblem debattiert wird, der Faktor Vermeidungsverhalten so gut wie immer unerwähnt bleibt.

Was ist Vermeidungsverhalten und warum spielt es eine wichtige Rolle?

Im kriminologischen Kontext ist Vermeidungsverhalten Angst, Opfer eines Verbrechens zu werden, die eine Selbst-Einschränkung der persönlichen Freiheit bewirkt. Aus den folgenden drei Gründen müsste Vermeidungsverhalten in jeder ernsthaften Diskussion über Gewaltkriminalität eine wesentliche Rolle spielen:

1. Vermeidungsverhalten generiert zusätzliches Vermeidungsverhalten

Wenn ein Teil der Frauen aus Angst vor Sexualstraftaten den öffentlichen Raum nicht mehr nach Gutdünken benutzt, macht das die übrigen Frauen noch exponierter. Ein Teil von ihnen wird sich ihrerseits zurückziehen. Im schlimmsten Fall ist eine verheerende Kettenreaktion die Folge, wie sie zum Beispiel in gewissen französischen Grossstadtquartieren schon geschehen ist. Aufgrund von allgegenwärtiger sexueller Belästigung, Drohungen und überbordender Kleinkriminalität sind im Pariser Quartier Chapelle-Pajol Frauen schon vor Jahren so gut wie vollständig aus dem öffentlichen Raum verschwunden. In der Banlieue von Lyon veranstalten Frauenrechtlerinnen derweil Protestspaziergänge in Gruppen. Ihr Ziel: Zusammen ein Café besuchen — etwas, was sie alleine nicht mehr gefahrlos können.

«Wir tun alles, um nicht aufzufallen auf der Strasse, auch im Bezug auf Kleidung. Wir haben Angst.» — Kleinkinderzieherin, Banlieue von Lyon, in einem Beitrag von France 2. Foto: Screenshot

2. Vermeidungsverhalten überdeckt einen Teil der steigenden Gewaltbereitschaft

Wer ein Gewaltverbrechen verüben will, muss Zugriff auf ein Opfer haben. Steigen die Quoten für Gewalt- und Sexualstraftaten kontinuierlich, legen mehr potentielle Oper Vermeidungsverhalten an den Tag. Eine steigende Anzahl von Delikten findet dementsprechend bloss nicht statt, weil potentielle Täter kein geeignetes Opfer finden. Das heisst: Dass sich immer mehr potentielle Opfer in ihrer Lebensgestaltung einschränken, sorgt für eine «untertriebene» Darstellung des Problems in den Statistiken. 

3. Vermeidungsverhalten läuft allem zuwider, wofür aufgeklärte, liberale Gesellschaften stehen

Freiheit und Gleichberechtigung beginnen beim Vertrauen, nicht an Leib und Leben gefährdet zu werden, solange man selbst keine Gewalt- oder Sexualstraftat begeht. Gesellschaften, die ausgiebig über Frauenquoten in Verwaltungsräten debattieren, aber im öffentlichen Raum keine Atmosphäre des Wohlbefindens für Frauen aufrechterhalten können, machen sich lächerlich und geben ihre Werte preis. Und das bleibt nicht ohne Folgen. Denn wenn Prinzipien wie Pluralismus und Diskriminierungsfreiheit zu hohlen Phrasen verkommen, dann verliert der liberale Rechtsstaat jeglichen Glanz. Die Profiteure davon sind Extremisten, die diesen Staat hassen.

«Die gläserne Decke zu zerschlagen ist sicher ein lobenswertes Ziel. Aber die Freiheit für alle Frauen, frei von Gewalt leben zu können, sollte Vorrang haben.» Ayaan Hirsi Ali, somalische Feministin in Prey. Immigration, Islam, and the Erosion of Women’s Rights. Foto: Gage Skidmore / Wikipedia

Die Schweiz ist keine Insel der Glückseligen

In Schweizer Grossstädten herrschen nicht dieselben Zustände wie in französischen. Doch die Angleichung nach unten ist auf gutem Weg. Gemäss einer diesen Frühling veröffentlichten Befragungsstudie des Meinungsforschungsinstituts Sotomo «ist für Frauen der Aufenthalt im öffentlichen Raum der Stadt Zürich teils ein Spiessrutenlauf: Weniger als jede dritte Frau wurde tagsüber noch nie belästigt, spätabends sogar nur jede fünfte Frau.» 73% der Frauen, die bereits Opfer eines Übergriffs geworden waren, nannten in derselben Studie «Sich abwenden» als eine Standardreaktion auf übergriffiges Verhalten, 58% «Den Ort verlassen». Wie viele dieser Frauen aus Angst vor Gewalt bestimmte Gebiete gar nicht mehr oder zumindest zu bestimmten Tageszeiten nicht mehr betreten, lässt sich aus diesen Zahlen nicht schliessen. Sicher ist aber: Gemäss einer aktuellen Untersuchung der ZHAW vermeiden bereits 40% der in der Schweiz lebenden, 16- bis 44-jährigen Jüdinnen und Juden aufgrund von Unsicherheitsgefühlen Teile des öffentlichen Raums. Das ist erstens für sich alleine ein Skandal und hat zweitens auch Implikationen bezüglich der Prävalenz von Vermeidungsverhalten bei anderen Bevölkerungsgruppen, denn wie man weiss — oder zumindest wissen sollte —: «It always begins with the Jews, but it never ends with the Jews». 

Gibt es funktionierende Strategien gegen die zunehmende Unsicherheit auf der Strasse? Die Antwort lautet glücklicherweise Ja. Allerdings nur im Rahmen einer Sicherheitspolitik, in der die innere Sicherheit eine höhere Priorität geniesst als bislang.

Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 5. August 2021