Regelmässig kommt es in den USA zu «mass shootings». Genauso regelmässig werden sie auf zu lasche Waffengesetze zurückgeführt. Das ist fatal, denn es verstellt den Blick auf die wahren Risikofaktoren für solche Taten.
Von Lukas Joos
Letzte Woche, in Uvalde, einer texanischen Kleinstadt: Ein mit einem Sturmgewehr bewaffneter junger Mann betritt eine Primarschule. Er ermordet so viele Kinder, wie er kann, bis er von Sicherheitskräften neutralisiert wird.
Wie es zu diesem Blutbad kommen konnte, wussten Politik und Presse, noch ehe die exakte Opferzahl feststand. Nur Stunden nach der Tat fragte US-Präsident Joe Biden rhetorisch: «Wann, um Gottes Willen, bieten wir der Waffenlobby die Stirn?». In der NZZ war zu lesen: «Texas ist einer der Gliedstaaten mit den lockersten Waffengesetzen des Landes (…) Wer älter als 21 ist und nicht wegen einer Gewalttat verurteilt wurde oder anderen rechtlichen Beschränkungen unterliegt, darf offen eine Pistole oder ein Gewehr tragen.»
Erstens macht föderales Recht alle US-Primarschulen zu sogenannten «waffenlosen Zonen». Zweitens war der Täter erst achtzehn Jahre alt. Drittens spielt bei derartigen Taten sowieso keine Rolle, wie das Waffentragen geregelt ist. Und viertens sind die Bedingungen für den Waffenerwerb in Texas nicht wesentlich laxer als in der Schweiz. Der Hund ist offensichtlich woanders begraben.
Ein Bett von zwanzig
Leider verhindert die politisch-mediale Obsession mit Waffen, dass breit über die relevanten Faktoren für solche Verbrechen debattiert wird. Solche Faktoren gibt es einige. Der vielleicht wichtigste ist auch der banalste: Wer sein Haus verlässt, um möglichst viele Primarschüler zu ermorden, ist nicht normal im Kopf. Jede sauber geführte «mass shooter»-Datenbank zeigt, dass eine Mehrheit der Täter eine Vorgeschichte bezüglich geistiger Gesundheit hatte.
Gefährliche Geistesgestörte und Psychopathen gab und gibt es immer. Geändert hat sich der Umgang mit ihnen, vor allem in den USA. In den USA ist die Pro-Kopf-Quote von Personen, die in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen sind, heute rund zwanzigmal tiefer als 1955.
Zum Teil lässt sich dieser Wandel mit pharmazeutischen Fortschritten erklären. Deutlich mehr Störungen der geistigen Gesundheit können heute medikamentös behandelt werden als vor siebzig Jahren. Aber erstens hat diese Therapieform ihre eigenen Tücken. Niemand kann garantieren, dass ein Patient sein Medikament nicht einfach absetzt – und entsprechend gefährlich wird. Und zweitens spielen auch weltanschauliche Gründe eine Rolle.
Wie der US-Autor Michael Shellenberger in seinem kürzlich erschienenen San Fransicko überzeugend darlegt, werden die Freiheitsrechte der Patienten heute ungleich stärker gewichtet als noch vor ein paar Jahrzehnten. Zudem vertreten heute Teile des psychiatrischen «Establishments» Sichtweisen, wonach die Grenzen zwischen geistiger Gesundheit und Krankheit zumindest fliessend sind – wenn nicht gar inexistent.
Übertriebene Hürden
Die Entwicklungen haben laut Shellenberger zu übertrieben hohen Hürden für fürsorgerische Freiheitsentzüge geführt. Diese wiederum sind die Ursache dafür, dass auch Geistesgestörte mit offensichtlichem Gewaltpotential nicht in geschlossenen Einrichtungen behandelt werden.
Nicht über mehr vorsorglichen Einzug von Waffen müsste also nachgedacht werden, sondern über mehr vorsorglichen Entzug von Freiheit. Natürlich: Das ist schwieriger. Aber dafür hätte es das Potential, das Problem wirklich zu lindern. Und ironischerweise würde es dazu führen, dass eine der wenigen wirksamen «gun control»-Massnahmen besser griffe: Personen vom Legalwaffenbesitz ausschliessen, die wegen eines Gewaltvorfalls zwangseingewiesen wurden.