Aufrüstung: Wie ernst ist es den Bürgerlichen?

Es braucht nicht mehr Geld für die Armee. Das behaupten SP, die Grünen und die glp. Die Bürgerlichen geben ihnen zumindest nicht ganz unrecht. 

Von Lukas Joos

Am 9. April führte die SVP eine Delegiertenversammlung durch. Der ukrainische David hatte dem russischen Goliath schon unerwartete Schwierigkeiten bereitet. Zudem waren eben die Kriegsverbrechen in Butscha publik geworden. Welche Schlüsse zog die grösste Partei des Landes daraus?

In ihrer Medienmitteilung zum Anlass erwähnte die SVP die Aufrüstung mit keinem Wort. Vordringlich war etwas anderes. «Die in unserer Verfassung verankerte Neutralität», hiess es gleich im ersten Satz, «garantiert unserem Land seit über 200 Jahren Sicherheit und Frieden.» Danach wurde Roger Köppel zitiert, nicht Sicherheits-, sondern Aussenpolitiker: «Die anderen Parteien und die Mehrheit des Bundesrates haben die Neutralität, das wichtigste Sicherheitsinstrument der Schweiz preisgegeben.»

Wenn die Neutralität die Sicherheit garantiert oder zumindest ihre Basis ist: Wie falsch liegen dann die Gegner des F-35 und der Militärdienstpflicht? Die SVP behielt es für sich. Am meisten Kummer bereiteten ihr sowieso nicht die Linksgrünen, sondern die Liberalen: «Die Schweizer Politik sei ein Hühnerhaufen geworden, so Parteipräsident Marco Chiesa. ‘Und das grösste Huhn ist offenbar die FDP.’ Deren Präsident Thierry Burkart fordere tatsächlich eine Anbindung der Schweiz an die NATO. Die NATO ist eine Angriffsarmee.»

Natürlich ist die NATO keine Angriffsarmee. Natürlich hat Thierry Burkhart nicht gefordert, die Schweiz solle sich an die NATO «anbinden». Aber Hauptsache, es ist immer noch genug fun and games, um das Gegenteil zu behaupten. Hauptsache, der Krieg ist immer noch so weit weg, dass man das innerbürgerliche Gekeife nicht unterbrechen muss, um die Abrüster und ihre Ideologie geschlossen zu bekämpfen.

Die totale Interoperabilität

Welchen Frevel hatte der Präsident «des grössten Huhns FDP» wirklich begangen? Einen Tag vor der SVP-Delegiertenversammlung hatte er in der NZZ eine sicherheitspolitische Auslegeordnung veröffentlicht. Deren Hauptthema war eine verstärkte militärische Zusammenarbeit mit der NATO, eine bessere «Interoperabilität». 

Um «Interoperabilität» mit westlichen Armeen hat sich schon General Guisan bemüht. Eine übermässig neue oder kontroverse Idee brachte Burkart also nicht ins Spiel. Interessanter war, worüber sich der Präsident des Freisinns offenbar keine Gedanken machte: über die 98 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die nicht in der Armee eingeteilt sind. 

Als das «Evil Empire» 1956 in Ungarn einmarschierte, führte der Schweizer Unteroffiziersverband (SUOV) Freiwilligenkurse zur Panzerbekämpfung durch. Interessierte konnten lernen, wie man ein Raketenrohr bedient und Molotovcocktails anfertigt. Ein Jahr später veröffentlichte der SUOV «Der totale Widerstand», Major Hans von Dachs berühmte «Kleinkriegsanleitung für Jedermann». Sie endete mit den Worten «Es ist besser stehend zu sterben, als kniend zu leben.»

Was heisst das nun, vor dem Hintergrund der russischen Massaker und der ukrainischen Erfolge mit hochmodernen Panzerfäusten? Lag der SUOV und Major von Dach schon damals falsch? Lägen sie heute falsch? Hat Widerstand und Gegenwehr ausserhalb der Armee (noch) irgendetwas zu tun mit Liberalismus, Menschenrechten, Anti-Totalitarismus und dem Milizprinzip? Oder ist die angestrebte «Interoperabilität» gar eine totale, ein Allheilmittel, das die Schweizer Zivilbevölkerung gegen Kontakt mit Invasionstruppen schützt? 

Burkart ging mit keinem Wort darauf ein. Egal, wie nah der Krieg gekommen ist – offenbar ist er eine Sache, welche die Armee etwas angeht, die breite Bevölkerung hingegen nicht.  

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Gerhard Pfister, der Präsident der Mitte, hat dafür den Ernst der Lage erkannt. Puncto Waffenlieferungen vertritt er eine Position, die ihn leicht angreifbar macht. Er tut es nicht aus wahltaktischen Überlegungen, sondern, weil ihn die Frage persönlich beschäftigt, weil sie für ihn auch Gewissenssache ist. Egal, wie man zu seinen Forderungen steht: In seinem Denken, in seinen Positionsbezügen hat der Krieg eine Dringlichkeit, die die Aufrüstung bitter nötig macht. 

Nur: Pfister ist nicht seine Partei. Auf dem Webportal der Mitte gibt es nach wie vor kein Raster Sicherheitspolitik. «Generationengerechtigkeit» und «Nachhaltige Wirtschaft» sind die Themen der Partei, der Schutz vor fremden Armeen, Terroristen und Gewaltkriminellen nicht.Vorletzte Woche brachten SVP, FDP und Mitte im Nationalrat die Forderung durch, das Armeebudget aufzustocken. Der Entscheid fiel mit 111 zu 79 Stimmen. Sobald die Invasion der Ukraine etwas in den Hintergrund gerückt ist, werden SP, Grüne und glp auf ihn zurückkommen. Allzu pessimistisch müssen sie Stand heute nicht sein.  

Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 26. Mai 2022