Bürgerliche Parteien und Medien pochen darauf, den F-35 zu beschaffen und das Armeebudget zu erhöhen. Das ist richtig. Nur: Sie stützen nach wie vor eine Politik, die Kriegs- und Terrorverbrechen an der Schweizer Zivilbevölkerung erleichtert.
Von Lukas Joos
Butscha. Der Name des gut 35’000 Seelen grossen Vororts von Kyiv ist zum Synonym für die massiven russischen Kriegsverbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung geworden. In den knapp drei Wochen, in denen Putins Truppen den Ort kontrollierten, ermordeten sie mindestens dreihundert Zivilisten. Sie verstümmelten, vergewaltigten, richteten Folterkeller ein und erschossen reihenweise Gefesselte.
Was wäre passiert, wenn jeder erwachsene Einwohner und jede erwachsene Einwohnerin von Butscha drei Dinge besessen hätte: eine Waffe, solide Grundkenntnisse in ihrer Handhabung sowie den festen Willen, sie gegen gewalttätiges Unrecht einzusetzen? Vielleicht wären die bučanki, die Einwohner des Ortes, gänzlich verschont geblieben. Vielleicht aber auch nicht. Leider bieten Waffen und Widerstandsfähigkeit einem Verteidiger keine Garantie, zu überleben. Wesentlich anders wäre Butschas Schicksal trotzdem verlaufen, und zwar in zweierlei Hinsicht:
1) Es hätte weder Vergewaltigungen noch Folter gegeben. Man kann bewaffnete, widerstandswillige Personen zwar ermorden, aber man kann sich weder missbrauchen noch terrorisieren.
2) Es hätte weniger Opfer gegeben. Teures ist schwieriger zu erhalten und wird weniger nachgefragt als Kostenloses. Das gilt auch für das Leben und die Würde von Zivilisten.
Mehr Gegengewalt, weniger Gratisgewalt
Wo es keine Unbewaffnete und Widerstandgehemmte gibt, gibt es keine Gratisgewalt. Das ist der Kern des echten Sicherheits-Milizprinzips. Die Schweiz war lange Zeit Vorreiterin, was die praktische Umsetzung dieses Prinzips anbelangt. Die Durch-Bewaffnung und der Widerstandswille der breiten Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg sind hinlänglich bekannt. In den Ortswehren wurden 16-Jährige ermuntert, schiessen zu lernen und Waffen zu tragen. Willy Bretscher, von 1933 bis 1967 NZZ-Chefredaktor, hielt für den Fall, dass plötzlich Nazi-Schergen in sein Büro platzten, stets eine Pistole griffbereit. Er hatte nicht vor, sich von ihnen die Hände zusammenbinden zu lassen.
1973 gab der damalige Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, Georges Brunschvig, einen Auftritt im Schweizer Fernsehen. Danach deckten ihn Antisemiten mit Morddrohungen ein. Brunschvig begann, einen Revolver auf sich zu tragen. Gewaltbereite Judenfeinde sollten es so schwer wie möglich haben, ihren Hass an ihm auszuleben. Noch 1995 schrieb die FDP in einer Vernehmlassungsantwort, eine «Meldepflicht an die Behörde» beim Waffenerwerb, «die mit der Zeit zu einer lückenlosen Kontrolle über alle sich im Privatbesitz befindlichen Waffen führen würde», sei «ersatzlos zu streichen». Über einen Bedürfnisnachweis fürs Waffentragen urteilte sie – genau richtig, wie sich zeigen sollte –, dieser «höhle das Recht auf Waffentragen bis zur Unkenntlichkeit aus.» Ihre Position war pointiert formuliert, aber rechts der SP mehr oder weniger Konsens.
Bagatellsünde Entwaffnung
Knapp dreissig Jahre später geht vom Legalwaffenbesitz immer noch keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit aus. Die Effekte des legalen Waffenbesitzes und -tragens zum Ziel des Kriminalitätsschutzes sind wissenschaftlich ungleich besser untersucht als damals. Und ob in den USA, in Israel oder in Tschechien: Wo Zivilisten Waffen tragen dürfen, werden sie in Zeiten erhöhter Terrorgefahr von Politik und Polizeivertretern angehalten, dies auch zu tun.
Doch in der bürgerlichen Schweiz hat der Wind trotz allem in die gegenteilige Richtung gedreht. An der Meldepflicht, die als sicherheitspolitisches Instrument schon in der Weimarer Republik versagte (die Hoffnung war, sie dämpfe politisch motivierte Gewalt…), den Nazis jedoch beste Dienste bot, mag keine bürgerliche Partei mehr zweifeln. Für das allgemeine Waffentragverbot gilt dasselbe.
Vor drei Jahren stimmten FDP und CVP sogar einem Besitzverbot von zivilen Sturmgewehren zu. Die Rechtfertigung: Es tangiere den Schiesssport nicht. Im Abstimmungskampf titelte die NZZ: «Zur Verschärfung des Schweizer Waffenrechts gibt es eigentlich keinen Grund. Trotzdem ist sie das einzig Richtige.» Nur die SVP war gegen das Verbot – aber mehr darum, weil es aus der EU kam. Selbst die Schützenverbände, die eine erfolglose Referendumskampagne führten, wollten nicht über das Entscheidende reden: darüber, dass Zivilisten Waffen brauchen und brauchen sollen, um sich vor Gewalt zu schützen.
Und die Entwaffnung geht ungebremst weiter. Das neuste Kapitel ist eine «Überprüfung der Verfügbarkeit von Schusswaffen», die der Bundesrat letzten Dezember ankündigte. Zur Rechtfertigung dieser «Überprüfung» verwies er auf eine Studie der Universität St. Gallen. Deren Autoren behaupten, Schusswaffenbesitz sei ein Risikofaktor für Tötungsdelikte in Partnerschaften.
Just zu jener Zeit, in der die russische Armee Butscha massakrierte, verschickte piusicur, die sicherheitspolitische NGO, deren Geschäftsführer ich bin, eine Medienmitteilung. Zusammen mit einer Plattform von bürgerlichen Jungpolitikern und verschiedenen Milizverbänden zeigten wir auf, dass es sich bei der St. Galler Studie um eine wissenschaftliche Fehlleistung handelt. Anhand einer detaillierten Mängelliste belegten wir, dass und wieso der behauptete Zusammenhang zwischen Waffendichte und Mordquote Humbug ist. Wir wiesen darauf hin, dass eine Verschärfung des Waffenrechtes keine Tötungsdelikte verhindert und je nachdem sogar mehr Unsicherheit bringt, zum Beispiel mehr Überfälle zuhause. Dementsprechend forderten wir den Bundesrat auf, eine Überarbeitung der Studie zu verlangen.
Das Echo war null. Dass die Regierung ohne Grund am privaten Waffenbesitz herumspielen will, schien auch für dezidiert bürgerliche Redaktionen eine Bagatelle zu sein.
Entwaffnung heisst Entmenschlichung
Wer ins Visier von Kriegsverbrechern oder Terroristen gerät, ist ohne Waffe krass im Nachteil. Das stellt jene Parteien und Behörden vor ein Problem, die sich nicht für das Recht von Zivilisten auf Waffen zum Selbstschutz einsetzen wollen. Sie können der Zivilbevölkerung schlecht sagen, Widerstand sei gut und richtig, solle aber bitte mit langen Fingernägeln ausgeführt werden. Aus diesem Grund bleibt ihnen nur eins übrig: kategorisch von Gegenwehr abzuraten oder diese Handlungsoption zumindest zu verschweigen.
Was soll die Schweizer Bevölkerung bei einem Terroranschlag tun? Das Bundesamt für Polizei (fedpol) empfiehlt «Fliehen, verstecken, armieren». Gehbehinderten und Eltern mit Kinderwagen nützt dieser Tipp eher wenig. Und angesichts der zig Massenmorde und Terroranschläge, bei denen bewaffnete Zivilisten die Opferzahlen erfolgreich drückten, ist er auch nur unter spezifischen Umständen richtig. Aber keine bürgerliche Partei zweifelt ihn an. Ganz einfach, weil man es nicht kann, ohne über bewaffnete Gegenwehr reden zu müssen.
Damit stützen die Bürgerlichen nicht nur eine Unsicherheitspolitik, die bei entsprechenden Verbrechen zu unnötig vielen Opfern führt. Sie tragen auch zu einer bemerkenswerten Entmenschlichung ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger bei. Eine Zivilistin, der das Recht auf Selbstverteidigung eingeimpft und das Recht auf eine Waffe zugestanden wird, ist im Fall der Fälle Herrin über ihr Schicksal. Ob sie Gegengewalt verübt, flieht oder sich dem Bösen fügt: Sie selbst trifft die Entscheidung, deren Folgen sie nachher trägt.
Entwaffnete, auf Gewaltlosigkeit Getrimmte hingegen können nicht selbst entscheiden. Im besten Fall können sie den Tatort verlassen wie Fluchttiere – ausserstande, etwas für den Schutz ihrer Nächsten zu tun. Im anderen Fall werden sie zu menschlicher Wegwerfware, über welche die Barbaren frei verfügen können. Was hätte das fedpol, an dessen Anti-Terror-Tipps die Bürgerlichen nichts aussetzen mögen, den Frauen von Butscha wohl geraten? «Rasieren Sie sich den Schädel und geben Sie vor, an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit zu leiden»?
Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 28. April 2022