Es ist Unsinn, die Verbrechen von Altstetten und Netstal als Femizid zu kategorisieren. Die Marotte, x-beliebige Tötungsdelikte mit weiblichen Opfern zu Femiziden umzudeuten, ist ein Novum – und zwar eines, das sich in kürzester Zeit durchgesetzt hat.
Von Lukas Joos
Am letzten Mittwoch erstach in Zürich-Altstetten ein 48-jähriger Türke seine dreissigjährige Ex-Partnerin. Zwei Tage später erschoss in Netstal GL ein 27-jähriger Tibeter eine drei Jahre ältere Landesgenossin. Das Tatmotiv war zunächst unklar, aber die Polizei ging von einem Beziehungsdelikt aus. Beide Male titelten diverse Medien: «Femizid». Tage später war in einem «Hintergrundartikel» auf srf.ch zu lesen, Femizide seien «auch in der Schweiz keine Einzelfälle». Mit Verweis auf das – ohne jegliche Quellenangaben funktionierende – «Rechercheprojekt stopfemizid.ch» informierte die Autorin, dass es «bereits 21 Femizide in der Schweiz seit Anfang Jahr» gegeben habe.
21 oder 0?
Femizide sind Tötungsdelikte, deren Motiv im Hass auf Frauen als Angehörige des weiblichen Geschlechtes liegt. Aus diesem Grund gehört zu den Merkmalen von Femiziden, dass der Täter seine Opfer zufällig auswählt. Eindeutig frauenfeindlich motivierte Verbrechen sind – wie andere Hassverbrechen auch – oft Massenmorde. Tötet ein Täter ausschliesslich seine (Ex)-Partnerin, kann es sich per Definition nicht um einen Femizid handeln. Die korrekte Bezeichnung solcher Delikte lautet Intimizid.Vor diesem Hintergrund ist es Unsinn, die Verbrechen von Altstetten und Netstal als Femizid zu kategorisieren. Nicht weniger abstrus wäre es, einen Homosexuellen, der seinen jüdischen Lebenspartner beim Fremdgehen erwischt und tötet, eines antisemitischen und homophoben Hate Crime zu bezichtigen. Zieht man von den auf stopfemizid.ch aufgelisteten 21 «Femiziden» die Intimizide sowie die Taten mit unklarem oder unbekanntem Tatmotiv ab, bleiben exakt null Fälle. Femizide sind – wie juden- oder schwulenfeindlich motivierte Morde auch – hierzulande glücklicherweise (noch) eine absolute Ausnahmeerscheinung.
Ein Begriffsunfug mit Schadenspotential
Die unsinnige Marotte, x-beliebige Tötungsdelikte mit weiblichen Opfern zu Femiziden umzudeuten, ist ein Novum – und zwar eines, das sich in kürzester Zeit durchgesetzt hat. Google findet für die Website nzz.ch 56 Treffer für «Femizid», keiner davon von vor 2017. Für tagesanzeiger.ch sind es 177, davon einer für die Zeit bis Ende 2016. Die Erklärung der 20-Minuten-Redaktion, dass sie «eine Tötung Femizid nennt, wenn eine Frau oder ein Mädchen von ihrem männlichen (Ex-)Partner oder von männlichen Familienmitgliedern getötet wird», stammt von diesem August.Intimizide und Femizide sind nicht nur klar voneinander abgrenzbar, sondern haben auch unterschiedliche Ursachen. Der Afghane, der zwecks Rettung der Familienehre seine scheidungswillige Partnerin ersticht, handelt aus anderen Motiven als der selbstdeklarierte Feministenhasser, der erst eine Geschlechterselektion durchführt, bevor er über ein Dutzend ihm unbekannte Frauen erschiesst. Medien, die Intimizide systematisch zu Femiziden umdeuten, treiben daher nicht einfach nur Unfug mit Begriffen. Sie bewirken vielmehr dasselbe wie Ärzte, die Migräne konsequent zu den Bauchschmerzen zählen: Sie erschweren die Bekämpfung eines Problems.Das Narrativ, wonach jede vorsätzlich getötete Frau Opfer eines Femizides ist, stammt aus der Küche progressiver Aktivistinnen. Was diese mit ihrem Aktivismus gewinnen, liegt auf der Hand. Ist jeder Frauenmord ein «anti-weibliches» Hassverbrechen, muss die Mehrheitsgesellschaft von radikaler Frauenfeindlichkeit durchsetzt sein. Dementsprechend sind grossflächige Aufklärungs-, Präventions- und Informationsprojekte nötig – implementiert natürlich am besten von ebenjenen Aktivistinnen. Ausserdem lenken Makro-Diskurse über den ewigen Mann als Täter von der für die progressive Weltsicht problematischen Tatsache ab, dass Männer aus nicht-westlichen Zivilisationen ungleich häufiger Gewalt gegen Frauen verüben als westlich sozialisierte Männer.
Unter den Stummen ist die Schwätzerin Königin
Warum dieses Narrativ von so vielen Journalistinnen und Journalisten breitwillig übernommen wird, ist eine andere Frage. Ein Grund dafür ist sicher, dass es auch auf den Redaktionen immer mehr Personen gibt, die Fakten, Evidenz, Argumente, Absichten, Werthaltungen, Wünsche und Gefühle nicht mehr zuverlässig auseinanderhalten können. So schrieb die Autorin des erwähnten SRF-Artikels: «Ein Femizid ist gemäss Europäischem Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) eine Tötung von Frauen, Mädchen oder weiblich gelesenen Personen aufgrund ihres Geschlechts. Man spricht von einem Femizid, wenn eine Frau zum Beispiel von ihrem Partner oder Ex-Partner oder von männlichen Familienmitgliedern getötet wird.» Dass sich die beiden Sätze widersprechen, merkte sie entweder nicht oder hielt es nicht für relevant.Entscheidend für den medialen Siegeszug des Pseudo-Femizides dürften aber die Bürgerlichen sein – das heisst, deren dröhnendes Schweigen. Ausser dem Missbrauch und der Tötung von Kindern gibt es wohl keine Straftat, die so dramatisch und instinktiv als Unrecht empfunden wird wie die vorsätzliche Tötung von Frauen. Doch auf bürgerlicher Seite gab es bisher keine nennenswerte Partei, kein nennenswerter Akteur, der sich ernsthaft mit der zunehmenden Gewalt gegen Frauen auseinandersetzt und den zuweilen offenkundigen Unsinn aus der progressiven Ecke widerlegt.Umso mehr, als die Progressiven die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft routinemässig mitverantwortlich machen für Gewalt gegen Frauen, ist die progressive Schlagseite vieler Journalistinnen und Journalisten bis zu einem gewissen Grad verständlich. Schweigen im Angesicht einer Anschuldigung kann ein Geständnis bedeuten. Oder anders gesagt: Protagonistinnen wie SP-Nationalrätin Tamara Funiciello mögen Schwätzerinnen sein. Aber unter den Stummen ist die Schwätzerin Königin.
Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 21.Oktober 2021