Alec Baldwin schuf auf seinem Filmset eine Blase, in welcher gesichertes Wissen über die Verhütung von Schiessunfällen weder erwünscht war noch Platz hatte. Seine Überheblichkeit kostete die Mutter eines Neunjährigen das Leben. Anatomie eines Extrembeispiels von elitärer Realitätsverweigerung.
Von Lukas Joos
Im Sommer 1871 fand in Lebanon, Ohio, ein aufsehenerregender Mordprozess statt. Verhandelt wurde eine tödliche Abrechnung unter zwielichtigen Gestalten, für die es Ohrenzeugen gab, aber keine Augenzeugen. Was feststand, war Folgendes: Das Opfer hatte in einem Hotelzimmer Karten gespielt, als der Angeklagte, unterstützt durch vier Mitglieder seiner Gang, gewaltsam in den Raum eindrang. Das Opfer erhob sich von seinem Stuhl, zog gleichzeitig seinen Revolver, feuerte mehrmals auf die Angreifer, verfehlte und sackte in sich zusammen: Es hatte eine einzige, tödliche Schusswunde in die Seite erlitten.
Baldwins «Vorgänger»
Der Strafverteidiger war kein anderer als Clement Vallandigham, ein schillernder Südstaaten-Unterstützer aus dem Norden. Vallandighams Verteidigung lief auf die Behauptung heraus, dass es gar kein Tötungsdelikt gegeben habe. Vielmehr habe sich das Opfer unabsichtlich selbst erschossen, als es seine Waffe zog.
Am Abend vor einem entscheidenden Plädoyer rief Vallandigham einen seiner Mitarbeiter in sein Hotelzimmer. Er wollte ihm demonstrieren, wie sich die Sache möglicherweise abgespielt hatte. Er nahm einen Revolver, steckte ihn in seine Tasche, zog ihn langsam, richtete den Lauf auf sich selbst, drückte ab – und fügte sich eine tödliche Schusswunde in die Seite zu. Er hatte seine persönliche Waffe mit dem ungeladenen Revolver verwechselt, den er für die Demonstration hatte verwenden wollen. (Sein Mandant wurde freigesprochen: Vallandigham hatte den ultimativen Beweis dafür geliefert, dass die Unfallhypothese plausibel war.)
Vor zwei Wochen ereignete sich auf dem Set eines Filmes, der von Vallandighams Zeiten handelt, ein quasi identischer Unfall. In einer Drehpause übte Alec Baldwin, Hauptdarsteller und Produzent, die Handhabung eines Revolvers. Er holsterte die Waffe, zog sie, richtete sie auf die Kamera, die ihn filmen sollte, drückte ab – und erschoss die 42-jährige Mutter, die diese Kamera bediente. Der Revolver, der ihm mit den Worten «leere Waffe» überreicht worden war, hatte scharfe Munition enthalten.
So ähnlich Vallandigham und Baldwin handelten, so unterschiedlich viel ist ihnen vorzuwerfen. Vallandigham war unvorsichtig, Baldwin kriminell grobfahrlässig. Der Grund für die Differenz ist, dass man im Vergleich zu 1871 heute ähnlich viel mehr über die Verhütung von Schiessunfällen weiss wie über die Gesundheitsschädlichkeit des Rauchens.
Vietnam und die vier Sicherheitsregeln
In der Handhabung von Feuerwaffen gibt es eine Zeit vor dem Vietnamkrieg und eine Zeit nach ihm. Der glücklose Kampf gegen den Vietcong führte einer ganzen Reihe von amerikanischen Offizieren vor Augen, wie sträflich unzulänglich westliche Armeen ihre Truppen an der Waffe ausbildeten. Dies wiederum hatte eine Zäsur im Umgang mit Feuerwaffen zur Folge.
Als Kern des Ausbildungsproblems war eruiert worden, dass die Instruktion nicht auf der Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Waffenträgers basierte. Die Soldaten lernten nicht richtig, wie sie dafür sorgen konnten und mussten, dass ihre Waffe schiesst, wenn sie schiessen soll, und nicht schiesst, wenn sie es nicht soll. Das eine Resultat dieser Ausbildungsfehler waren zahllose Männer, die verletzt oder getötet wurden, weil ihre Waffe nicht schoss – etwa, weil sie zu entsichern vergessen hatten oder eine Störung nicht beheben konnten. Das andere Resultat waren tausende von ungewollten Schussabgaben mit Todesfolge.
Um letzterem Problem Herr zu werden, entwickelte ein Stosstruppen-Offizier folgende vier Regeln für den Umgang mit Feuerwaffen aller Art:
1. Betrachte jede Waffe als geladen.
2. Richte deine Waffe nie auf etwas, was du nicht zerstören willst.
3. Solange die Visiervorrichtung nicht auf das Ziel gerichtet ist, bleibt der Zeigefinger ausserhalb des Abzugbügels.
4. Sich seines Zieles sicher sein.
Es zeigte sich rasch, dass mit diesen Regeln – die in solcher Weise redundant sind, dass nur eine einzige eingehalten werden muss, um Unfälle mit Personenschäden zu vermeiden – das Risiko von Schiessunfällen mit Verletzten oder Toten auf praktisch null reduziert werden konnte. Dementsprechend rasant und vollständig war ihr Siegeszug bei allen wenigstens halbwegs qualifizierten Akteuren, die Feuerwaffen benutzen. Auch in der Schweiz sind die «four rules of gun safety» schon seit einem Vierteljahrhundert Dreh- und Angelpunkt des sicheren Umgangs mit Feuerwaffen. Egal, ob Grenadier, Spitalsoldat, Polizeiaspirant, Jungschütze oder Jagdnovize: Jeder kennt sie in- und auswendig, bevor er das erste Mal schiesst.
Rules for thee but not for me
Baldwin missachtete nicht mehr Sicherheitsregeln als Vallandigham. Ohne alle vier gleichzeitig zu brechen, sind Unfälle mit Personenschäden wie erwähnt gar nicht möglich. Der Unterschied liegt im Effort, den die beiden hätten machen müssen, um das Unglück zu vermeiden. Vallandigham hätte sich aus persönlichem Interesse Prinzipien der Waffenhandhabung überlegen müssen, die «seinen» Unfall ausschlossen. Baldwin hingegen hätte auf die vier Sicherheitsregeln stossen können, wie man auf Zahlen stösst, wenn man ein Mathebuch aufschlägt. Er hätte bloss davon ausgehen müssen, dass er jemandem schaden könnte, wenn er unsachgemäss mit einer Waffe hantierte. Er tat es aber nicht. Genau darum spielt es auch keine Rolle, dass ihm jemand versichert hatte, seine Waffe sei ungeladen. Ohne Prominenten-Bonus wird er einer Anklage wegen fahrlässiger Tötung kaum entgehen.
Baldwins tödliches Versehen ist einzig und allein auf seinen Dünkel zurückzuführen. Als hysterischem «gun control»-Aktivisten und Mitglied der «No Rifle Association» kann ihm das Waffengesetz für seine Mitbürger nicht streng genug sein. So gab er unter anderem schon zu Protokoll, wer eine Waffe erwerben wolle, solle «einen möglichst beschwerlichen Prozess durchlaufen, um zu beweisen, dass er qualifiziert für Waffenbesitz ist». Sich selbst sah er aber offensichtlich ausgenommen von dieser Pflicht. Ihm geziemte es, ohne Sinn und Verstand mit einem Revolver herumzuwedeln.
Baldwins «shit-show»
Baldwins selbstgerechte Überheblichkeit – es ist exakt jene Hybris, mit der SP-Kader, die Kurzstreckenflüge verbieten wollen, zum Spass nach Berlin jetten – erklärt das Ereignis von jenem Moment an, in welchem er die Unfallwaffe in die Hand nahm. Aber wie konnte es dazu kommen, dass ihm ein mit scharfer Munition geladener Revolver gereicht wurde, und zwar mit den Worten «leere Waffe»? Die Antwort lautet: ebenfalls durch seine selbstgerechte Überheblichkeit.
Natürlich: Es war nicht Baldwin, der das Set mit scharfer Munition kontaminierte, die scharfe Patrone in den Revolver lud und dessen Sicherheitskontrolle vermasselte. Aber als Produzent war Baldwin der oberste Personalchef. Und ein Western-Set im Jahr 2021, auf dem kein technischer Verantwortlicher einen post-Vietnamkrieg-Wissensstand über sichere Waffenhandhabung besitzt, kommt nicht zufällig zustande. Vielmehr ist es eine Art Blase – ein von Baldwin erschaffenes Artefakt.
Vielerorts wird spekuliert, das Artefakt sei durch Baldwins übermässige Sparsamkeit entstanden. Es kann gut sein, dass Baldwin ein geiziger Arbeitgeber war. Aber für den Unfall spielte die finanzielle Komponente keine Rolle. Dies aus dem einfachen Grund, dass das elementare Wissen über sichere Waffenhandhabung, welches den Unfall verhindert hätte, so weitverbreitet ist, dass es praktisch nichts kostet. Jeder arbeitslose Afghanistan-Veteran hätte den Unfall verhindern können, wenn er dazu angestellt worden wäre. Das Set verkam nicht deswegen zur Stümper-Bubble, weil Baldwin sich keine Kompetenz leisten wollte.
Geht es nicht um Geld, geht es meist um Persönliches. Auch im vorliegenden Fall. Baldwin hat erstens einen beachtlichen Track Record als Macho und Rüpel. Zweitens ist er so etwas wie ein wandelndes progressives Klischee. Ausser einem militanten NRA-Hasser ist er auch militanter Tierschützer, militanter Trump-Hasser, militanter Anti-Republikaner, Veganer und Umweltschützer. Diese Kombination muss ihn ausserordentlich unempfänglich für Experten machen, die ihm dreinreden und Lektionen erteilen – vor allem dann, wenn diese Experten, wie das bei den allermeisten Feuerwaffen-Instruktoren der Fall ist, weder vegan leben, sozialistisch wählen noch mit Elektroautos vorfahren.
Statt die NRA als herzlose Zyniker zu verteufeln, hätte Baldwin deren Einsteiger-Pistolenkurs besuchen können (erste Lektion: Essential gun safety rules). Statt die Verantwortung über die Waffen einem Grünschnabel ohne Leistungsausweis und Durchsetzungsvermögen zu übertragen, hätte er einen gestandenen Experten an Bord holen können. Doch seine Borniertheit und seine Ideologie liessen ihn, wie es Piers Morgan treffend ausdrückte, sein Set in «a chaotic, dangerous shit-show» verwandeln, auf dem «the tragedy an accident waiting to happen» war.
Er selbst wird nichts daraus lernen. Es bleibt zu hoffen, dass der unnötige Tod der Kamerafrau ein paar anderen partisan hacks bewusst macht, wohin konsequente, bubble-basierte Realitätsverweigerung führt.
Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 4. November 2021