Fedpol-Chefin Nicoletta della Valle tut sich schwer, islamistische Täter zu benennen. Sofort geht es um Islamfeindlichkeit, um Xenophobie. Damit liegt sie jedoch falsch.
Von Lukas Joos
Heute vor sechs Jahren gab Nicoletta della Valle, die Direktorin des Bundesamtes für Polizei (Fedpol), ein bemerkenswertes Interview über islamistischen Terror. Hintergrund waren die Pariser November-Attentate, die Tage zuvor 130 Todesopfer und 493 Verletzte gefordert hatten. Della Valles Antworten schlugen wohl nur deshalb keine Wellen, weil sie im unmittelbaren Nachgang der Anschläge nicht richtig registriert wurden.
Die Täter-Opfer-Umkehr
Die Attentäter hatten ein schwer zu fassendes Blutbad angerichtet. Im Bataclan, wo sie 90 Personen ermordeten, kamen die Einsatzkräfte kaum vorwärts, weil der Boden so rutschig war. Der Grund: «Es hatte überall Blut und Patronenhülsen, ebenso wie Kalaschnikow-Magazine.» Wie erklärte sich die Fedpol-Chefin, dass jemand ein derartiges Verbrechen verübt?Della Valle vermittelte eine konsistente Sicht der Dinge. Einerseits sagte sie nichts, das auch nur impliziert hätte, dass die Terroristen einen freien Willensentscheid getroffen hatten oder irgendeine Schuld oder Verantwortung für die Massenmorde trugen. Selbst von einer moralischen Qualifikation der Taten sah sie ab. Andererseits ging sie explizit und wiederholt auf mögliche soziale Faktoren ein. «Ich glaube», sagte sie, «die Anziehungskraft des Islamischen Staates ist besonders gross für Leute, die nicht genügend Wertschätzung erhalten, die am Rand der Gesellschaft stehen, die Brüche in der Biografie erleben. Für sie ist das Versprechen einer anderen, besseren Welt, eines richtigen Weges, verführerisch.»Dass die Schweiz weniger gefährdet sei als Frankreich, erklärte sie, liege auch daran, dass «es uns wirtschaftlich gut geht und das Bildungssystem hervorragend ist. Haben Jugendliche Perspektiven, sind sie weniger anfällig für Radikalisierung (…). Die Jungen müssen integriert werden, sie brauchen Perspektiven. Egal, welche Religion, Hautfarbe oder Herkunft sie haben.» Mit anderen Worten: Schuld war die französische Mehrheitsgesellschaft. Sie hätte «integrieren müssen», aber war dieser Pflicht nicht richtig nachgekommen.
Die Bevölkerung als Viehherde
Mehrfach wurde klar, dass die Fedpol-Direktorin im Zusammenhang mit dem islamistischen Terror auch Sicherheitsrisiken beschäftigten, die sie in der breiten Schweizer Bevölkerung verortete. Die Frage des Journalisten, ob sie «die neue Welle der Islamfeindlichkeit» beunruhige, die «man seit den Anschlägen beobachtet», beantwortete sie wie folgt: «Ja. Es besteht die Gefahr, dass jetzt Fremdenhass und Islamfeindlichkeit geschürt werden. Deshalb ist es mir ein Anliegen, zu sagen, dass Terrorismus und Dschihadismus nichts mit Religion zu tun haben.»Diese islamfeindliche «Gefahr» war nicht nur im Vergleich zu islamistischen Terroranschlägen bemerkenswert, die gemäss della Valle bloss «möglich» waren. Sie machte auch deswegen stutzig, weil der Islam ja gar nichts mit «Terrorismus und Dschihadismus» zu tun hatte. Offenbar waren nennenswerte Teile der Schweizer Bevölkerung nicht nur spring-loaded mit Xenophobie und Islamhass, sondern auch ziemlich schwachsinnig.Die Vorstellung der Fedpol-Chefin, dass die Bevölkerung nicht nur geschützt, sondern auch «gemanagt» werden musste, drückte auch an anderen Stellen durch. Auf die Frage zum Beispiel, warum nach den Anschlägen die Polizeipräsenz stark erhöht worden war, antwortete sie: «Die Leute sind verunsichert. Es ist wichtig, dass die Polizei sichtbar ist.» Herr und Frau Schweizer waren nicht an Leib und Leben gefährdet, sondern in einem emotionalen Ungleichgewicht. Die zusätzlichen Kräfte waren nicht gegen mögliche Nachahmungstäter auf der Strasse, sondern zur Beruhigung einer nervösen Herde.
Die Lage hat sich verändert – Della Valle nicht
Die innere Sicherheitslage hat sich in den letzten sechs Jahren markant verschlechtert – della Valles Blickwinkel blieb unverändert. Letzten November gab sie ein Fernseh-Interview zu den Terroranschlägen von Morges und Lugano. Gleich zu Beginn belehrte sie die Zuschauer, dass «diese Fälle zeigen, dass es die hundertprozentige Sicherheit nicht gibt». Die Islamistin, die in Hannover einem Polizisten ein Messer in den Hals gerammt hatte, bezeichnete sie als «15-jähriges Meitschi». Und das I-Wort vermied sie noch genauso konsequent wie 2015.Sicherheitsbehörden, die Terroranschläge mit schwierigen Lebensumständen der Täter erklären, bekräftigen nicht nur potentielle Attentäter in ihrem selbstgerechten Hass auf die Mehrheitsgesellschaft. Sie leisten der Bekämpfung von delinquentem Verhalten auch anderweitig einen Bärendienst.
Bekräftigte Täter, unwissende Opfer
Erstens entwerten sie gesetzestreues, moralisches Verhalten ganz generell. Denn können «mangelnde Wertschätzung» und «Brüche in der Biographie» ein Massaker à la Bataclan (mit-)erklären, trägt kein Straftäter Verantwortung für gar nichts. Zweitens schwächen sie auch die Assimilationskraft westlicher Ideale. Wer will seine Lebensweise schon an einer Gesellschaft ausrichten, die sich für die Taten blutrünstiger Barbaren kasteit?Noch handfestere Probleme bei der Terrorbekämpfung verursachen Sicherheitsbehörden, wenn sie dem Durchschnittsbürger misstrauen oder ihn nicht für voll nehmen. «Latente Widerstandsfähigkeit ist überall, und sie ist die einzige sichere Abwehr gegen Terrorismus», bemerkte Amanda Ripley in ihrer bahnbrechenden Studie über die Überlebbarkeit von Terroranschlägen, Naturkatastrophen und anderen grossen Gefahrenereignissen. Das heisst: Ob jemand einen Anschlag überlebt oder nicht, wird in vielen Fällen dadurch entschieden, ob er seine in ihm schlummernden Fähigkeiten, sich zu schützen, rechtzeitig aktivieren kann. Und dies wiederum hängt, wie sich zeigte, auch davon ab, welche Informationen, welches Training und welche Mittel ihm die Behörden auf welche Art und Weise zur Verfügung stellen.Dass etwa die «Verhaltensregeln bei einem Anschlag» des Fedpol ein Paradebeispiel dafür sind, wie man es nicht macht, sollte vor diesem Hintergrund nicht überraschen. «Fliehen – Verstecken – Alarmieren», empfiehlt della Valles Amt. Einmal abgesehen davon, dass es «Kämpfen» statt «Alarmieren» heissen sollte: Bereits die allererste Handlungsanweisung beweist die absolute Unbrauchbarkeit der Informationen. «Suchen Sie den Weg aus der Gefahrenzone», wird dem Bürger geraten. Was er dazu wissen müsste, um zu überleben, aber nicht erfährt: Seine Chancen, im Ereignisfall den «Weg aus der Gefahrenzone» zu entdecken, sind ziemlich klein, wenn er sich mögliche Fluchtwege nicht schon vorgängig merkt.Della Valle hat recht: Die hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Wie viele Prozent erreicht werden können, hängt aber auch davon ab, welche Personen mit welchen sicherheitspolitischen Schlüsselpositionen betraut sind.
Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 18. November 2021