«Die Schweiz ist friedlicher geworden» — wirklich?

Die Schweiz hat ein wachsendes Problem mit Gewalt. It’s time to get serious about it.

Dirk Baier ist Soziologe und Leiter des «Instituts für Delinquenz & Kriminalprävention» an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Im Mai 2021 gab er der auflagenstärksten Zeitung des Landes ein Interview zur hiesigen Kriminalitätsentwicklung. Seine nichts an Eindeutigkeit zu wünschen übrig lassende Bilanz: «Die Schweiz ist friedlicher geworden». Das klingt positiv — aber stimmt es?

Zwischen 2015 und 2020 wuchs die Schweizer Bevölkerung um 4.1%. In der gleichen Zeit entwickelten sich die Deliktzahlen für Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte (Art. 285 StGB) wie folgt:

201520162017201820192020Zunahme 15-20
Anzahl Delikte28082764301230473251351425.1%
Anzahl Beschuldigte19512003217821522088242124.1%
Quelle: PKS

Das heisst: Seit 2015 nahmen bei diesem Delikt sowohl Fall- wie Beschuldigtenzahlen mit der sechsfachen Geschwindigkeit der Bevölkerungsgrösse zu. Dass jene, die Polizisten und andere Repräsentanten des Staates bedrohen oder angreifen, Gewalt gegen Zivilpersonen eher nicht als Tabu erachten, liegt auf der Hand. Aus diesem Grund setzt schon der isoliert betrachtete Trend puncto Art. 285 StGB ein ernsthaftes Fragezeichen hinter die Aussage, die Schweiz «sei friedlicher geworden». 

Was die Deliktzahlen unter anderem für schwere Gewalt- und Sexualstraftaten betrifft, zeigen die PKS-Zahlen für 2020 folgende Veränderungen gegenüber jenen für 2015: 

DeliktVeränderung Deliktzahl 2020 gegenüber 2015
Tötungsdelikte (Art. 111-113/116 StGB)+27.8%
Vergewaltigung+34.0%
Schwere Körperverletzung+8.6%
Einfache Körperverletzung+0.8%
Drohung+4.3%
Nötigung+27.1%
Sexuelle Belästigung+35.6%

Die Anzahl der durch schwere Gewalt Geschädigten nahm gegenüber 2015 um 22.5% zu.

Hinsichtlich von Minderjährigen und jungen Erwachsenen verübte Gewalt- und Sexualstraftaten veränderte sich die Situation im Vergleich zu 2015 wie folgt:

Delikt Veränderung Beschuldigtenzahl 2020 gegenüber 2015; Alter Beschuldigte: <18 JahreVeränderung Beschuldigtenzahl 2020 gegenüber 2015; Alter Beschuldigte: 18-24 Jahre
Tötungsdelikte (Art. 111-113/116 StGB)+1850%+75.7%
Vergewaltigung+178.6%+69.7%
Schwere Körperverletzung+56.3%+23.0%
Einfache Körperverletzung+45.7%-13.7%
Nötigung+18.1%+21.1%
Beteiligung Angriff (Art. 134 StGB)+135.1%+21.1%
Beteiligung Raufhandel (Art. 133 StGB)+57.1%-3.6%

Diese Werte legen in überdeutlicher Weise nahe:

  1. Schwere Gewalt hat signifikant schneller zugenommen als die Bevölkerungsgrösse; 
  2. Schwere Jugendgewalt hat signifikant schneller zugenommen als schwere Gewalt im Allgemeinen. 

Wer behauptet, «die Schweiz sei friedlicher geworden», steht vor diesem Hintergrund in Erklärungspflicht. Entweder, er muss darlegen, warum stark steigende Zahlen für Delikte wie Vergewaltigung, schwere Körperverletzung oder Beteiligung an Angriffen irrelevant sind für die «Friedlichkeit» einer Gesellschaft. Oder aber er muss aufzeigen, warum sich die Entwicklung der Hellfeld-Quoten für Gewalt- und Sexualverbrechen völlig entkoppelt hat von der Entwicklung der realen Quoten: das heisst, warum immer mehr schwere Gewalttaten pro Kopf polizeilich bekannt werden, obwohl in Tat und Wahrheit immer weniger solche Verbrechen pro Kopf verübt werden.

Baier tat während des Interviews weder das eine noch das andere. Als Beweis für seine These, in der Schweiz habe die Gewaltbereitschaft abgenommen, führte er gesunkene Verurteilungszahlen an — als ob diese irgendeine Aussagekraft hinsichtlich Gewaltbereitschaft besässen. Zur Begründung seiner These machte er geltend: 1) Die Polizei leiste bessere Arbeit und die Bürger schützten sich besser vor Kriminalität; 2) «Wut und Aggressionen haben sich vermehrt ins Netz verlagert.» 
Warum Bürger und Sicherheitskräfte grössere Präventionsanstrengungen betreiben, wenn die Gewaltbereitschaft abnimmt, blieb sein Geheimnis.

Soziologen wie Baier sind kein Einzelfall. Exponenten des Hochschul-Establishments, die in Bezug auf Gewaltkriminalität Gaslighting betreiben, gehören in vielen westlichen Demokratien seit Jahrzehnten zum Courant normal. Dasselbe gilt auch für Medienvertreter, die gegenüber solchen Wissenschaftlern nicht genügend selbstbewusst auftreten. Die Journalistin, die mit Baier redete, merkte am Schluss ihres Artikels zwar an, dass «der Jahresbericht der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) ein anderes Bild zeigt», als der Interviewte suggerierte. Eine Aufforderung an Baier, den offensichtlichen Widerspruch zwischen seinen Ausführungen und der Statistik zu erklären, unterliess sie aber.

Alles hat seinen Preis — auch mangelnde Ernsthaftigkeit bei der Bekämpfung der steigenden Gewalt. So entspricht die erwähnte Zunahme der polizeilich bekannt gewordenen Vergewaltigungen um 34% in absoluten Zahlen einem Plus von 181 Fällen. Multipliziert man diese Zahl zur Einberechnung des Dunkelfeldes mit dem Faktor 5 (beim Delikt Vergewaltigung ein Wert hart am unteren Rand), ergeben sich 905 Fälle. Selbst wenn man — ohne jeglichen Grund — davon ausgeht, drei Viertel dieser Fälle seien aufgrund von «geändertem Anzeigeverhalten» bekannt geworden, bestünde noch eine reale Zunahme um 226 Fälle, das heisst, um eine zusätzliche Vergewaltigung pro eineinhalb Tage. 

Die Schweiz ist alles geworden, nur nicht friedlicher. Es ist höchste Zeit, dieser Tatsache ins Auge zu schauen — und zu handeln.