Sexualstrafrecht: Die «Nein heisst gar nichts»-Variante

Im internationalen Vergleich sind die Schweizer Strafrahmen für Delikte gegen Leib und Leben ausgesprochen tief. Dazu kommt der Umstand, dass die hiesigen Gerichte Gewalt- und Sexualstraftäter mit notorischer Milde behandeln. 

Von Lukas Joos

In den letzten fünfzehn Jahren kam etwa ein Viertel der wegen Vergewaltigung Verurteilten mit einer bedingten Freiheitsstrafe davon. Werden solche Täter während der Probezeit nicht rückfällig, sitzen sie keinen Tag ihrer Strafe ab.

Die Folgen dieser Praktiken erscheinen zuweilen wie schlechte Scherze. So vergewaltigte 2019 ein über 40-Jähriger auf einem Jahrmarktgelände ein 15-jähriges Mädchen wiederholt oral, vaginal und anal. Ein Schwyzer Gericht verurteilte ihn zu einer bedingten «Nicht-Strafe» (siehe hier).

Niemand opponierte gegen Geldstrafen

Die Revision des Sexualstrafrechtes hätte Gelegenheit geboten, Abhilfe zu schaffen. Aber schon die Rechtskommission des Ständerates wollte das nicht tun. Im Gegenteil: Was ihr Entwurf vorsah, war ein Musterbeispiel der sogenannten «soft on crime»-Haltung. Für alle Grundtatbestände sollten Geldstrafen möglich sein und für praktisch alle qualifizierten Taten Bewährungsstrafen. Eine einzige Minderheit forderte bei einem einzigen Tatbestand eine Verschärfung. Sie wollte, dass Täter wie der Jahrmarkt-Peiniger in Zukunft wenigstens einen Teil ihrer Strafe absitzen müssen. Gegen Geldstrafen für sexuelle Nötigung, Schändung und ähnlichem opponierte niemand.

Die Forderungen von SVP-Ständerat Werner Salzmann waren im europäischen Vergleich immer noch unterdurchschnittlich hart.

Einzig der Berner SVP-Ständerat Werner Salzmann versuchte, Korrekturen zu erwirken. Mit einer Reihe von Einzelanträgen forderte er insbesondere, bei schweren Delikten wie sexuelle Nötigung, Schändung und dem neuen Grundtatbestand der Vergewaltigung (Penetration gegen den Willen, aber ohne Nötigung des Opfers) die Möglichkeit von Geldstrafen zu streichen.

Salzmanns Forderungen waren im europäischen Vergleich immer noch unterdurchschnittlich hart. So verlangte er bei mehreren Tatbeständen, die in vielen westlichen Ländern mit mehrmonatigen bis mehrjährigen Mindeststrafen belegt sind, lediglich die Abschaffung der Geldstrafe. Doch der Rat lehnte seine Anträge wuchtig ab.

Auch Vergewaltigung ist Eigenverantwortung

Eines der Lieblings-Schlagwörter der Bürgerlichen lautet Eigenverantwortung. Das setzt freien Willen voraus. Wer schändet und vergewaltigt, macht das zumindest gemäss bürgerlichem Kanon, weil er sich «eigenverantwortlich» dazu entschieden hat. Dementsprechend muss es zur bürgerlichen Weltsicht gehören, Gewalt- und Sexualverbrecher nicht als Opfer ihrer Umstände zu betrachten, sondern als bösartige Asoziale. Darum hat das Strafrecht primär für angemessenes Gegenleid zu sorgen. Tut es das nicht, lässt es Unrecht ungesühnt – und nimmt so Partei für das Böse. Das Strafrecht ist kein Präventionsinstrument, sondern regelt das Strafen. Aber offensichtlich ist das den meisten — auch bürgerlichen — Ständeräten nicht mehr bewusst.

Es gibt böse, dumme Zeitgenossen, die Sexualstraftäter härter anfassen wollen. Es gibt so integre und intelligente Menschen wie die meisten Ständeräte, die an einem Ablasshandel mit Geld für Vergewaltigung nichts Falsches sehen. Das ist so, weil politische Ansichten weniger mit Integrität oder Intelligenz zu tun haben als mit Wertvorstellungen. Und aus diesem Grund gilt: Wer «Geldstrafen für Vergewaltiger» nicht mit eklatantem, unbedingt zu verhinderndem Unrecht assoziiert, der kann nicht über einen funktionierenden bürgerlichen Wertekompass verfügen.

Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 16. Juni 2022