Offizieller Ratschlag zur Gewaltprävention ohne wissenschaftliche Grundlage

In der Wintersession beantwortete der Bundesrat eine Interpellation unter anderem zum Thema Gewaltprävention von Ständerat Werner Salzmann (SVP/BE): Auf welcher faktischen Grundlage rät die Fachstelle Schweizerische Kriminalprävention SPK von der Anschaffung einer Schusswaffe zum Selbstschutz «dringend» ab? Salzmanns Replik im Rat beleuchtet die Hintergründe ausführlich.

Von Werner Salzmann

Das vollständige Votum von Ständerat Werner Salzmann. (Video: parlament.ch)

Konkret geht es bei dieser Frage um einen Ratschlag der Fachstelle Schweizerische Kriminalprävention (SKP). Die SKP wird von der Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren getragen. Dementsprechend haben ihre Ratschläge einen offiziellen Charakter. Was rät die SKP in Bezug auf Selbstschutz mit einer Waffe? Ich zitiere: «Aus polizeilicher und präventiver Sicht ist von einer Anschaffung einer Schusswaffe zum Selbstschutz dringend abzuraten! […] eine Waffe kann ungeübten Händen schnell entrissen und vom Angreifer gegen einen selbst eingesetzt werden.»

Vergewissern Sie sich bitte, an wen sich dieser Ratschlag richtet. Es geht hier nicht um Velodiebstähle oder Tätlichkeiten. Bewaffnete Notwehr und Notwehrhilfe sind in der Schweiz nur in engen Grenzen erlaubt: um eine Tötung, schwerste Verletzungen, Verstümmelungen oder sexuelle Gewalt abzuwenden. Das heisst, dass sich dieser Ratschlag auf Situationen bezieht, in denen jemand die wahrscheinlich schlimmsten Momente seines Lebens durchläuft, Momente, die schicksalsentscheidend sind. Ich glaube, wir sind uns alle einig, dass Ratschläge für solche Momente nicht leichtfertig erteilt werden sollten.

Das Hauptargument der SKP ist, dass bewaffneter Selbstschutz für das Opfer gefährlicher sei als für den Täter. Praktisch zu erwarten ist laut der SKP, dass der Täter dem Opfer die Waffe entreisst und sie gegen dieses einsetzt. Ich kenne keinen einzigen Fall, in welchem das passiert ist. Wissen Sie, wer sonst noch keinen Fall kennt: die SKP. Sie können dort anrufen. Man wird Ihnen sagen, man könne Ihnen keinen Fall nennen. 

Wie sich jemand, der mit schwerer Gewalt angegriffen wird, am besten verhält, ist eine empirische Frage. Sie hat nichts mit politischen Ansichten oder Überzeugungen zu tun. Durch Experimente kann man diese Frage logischerweise nicht klären, aber man kann systematische Opferbefragungen durchführen, die Aufschluss darüber geben. In den USA wird genau dies getan, und zwar jedes Jahr – schon seit 1973. Gewaltopfer werden genau befragt: Wie haben sie auf den Angriff reagiert, wie hat sich das auf den Tatablauf ausgewirkt? Die Ergebnisse sind klar und konsistent: Erstens bestätigt sich immer wieder, dass gewaltsame Gegenwehr, besonders mit einer Waffe, die Chance des Täters drastisch senkt, sein Verbrechen erfolgreich zu verüben. Zweitens zeigt sich ebenso regelmässig, dass Opfer, die sich gewaltsam wehren, kein signifikant höheres Risiko eingehen, verletzt zu werden. Ich gebe Ihnen ein Beispiel für das Delikt Vergewaltigung. Bei diesem Delikt ist ja immer ausgeschlossen, dass das Opfer eine Mitschuld hat. Für Opfer eines Vergewaltigungsversuchs, die sich mit einer Stich- oder Schusswaffe wehren, zeigt sich: Die Wahrscheinlichkeit der Vergewaltigung, des Vergewaltigungsvollzugs liegt je nach Stichprobe bei 0 bis 3 Prozent. Diese Studien weisen in eine ganz andere Richtung als die Ratschläge der SKP. 

Aus diesem Grund habe ich den Bundesrat gefragt, wie er diese Ratschläge vor dem Hintergrund dieser Studie einschätzt. Mit seiner Antwort kann ich mich nicht zufriedengeben. Sie trägt der Ernsthaftigkeit des Problems einfach zu wenig Rechnung. Der Bundesrat antwortet nämlich, dass er «[…] auch in Zukunft den Rat der Schweizerischen Kriminalprävention» unterstützt, «[…] von der Anschaffung einer Schusswaffe zum Selbstschutz abzusehen.» Das ist schön und gut, aber auf welcher Grundlage tut er es? Auf die von mir zitierte Studie geht der Bundesrat mit keinem Wort ein. Er erwähnt nur, dass es für die Schweiz keine analogen Analysen gebe. Das stimmt, und ich kann Ihnen auch sagen, wieso: In der Schweiz wird bei Opferbefragungen aus mir unerfindlichen Gründen konsequent nicht gefragt, wie Gewaltopfer reagieren und wie sich dies auf den Tatablauf auswirkt.

Wenn es in der Schweiz aber keine Studien gibt, die zu gegenteiligen Schlüssen kommen: Wie kommt dann der Bundesrat dazu, den amerikanischen Studien so konsequent zu widersprechen? Der Bundesrat führt an: «Das Gewaltmonopol liegt in der Schweiz beim Staat. Es ist Sache der Polizei, die Kriminalität zu bekämpfen und die Bevölkerung wirksam davor zu schützen.» Es gibt Meinungen und Fakten, und hier stimmen meines Erachtens die Fakten nicht.

Erstens liegt das Gewaltmonopol immer beim Staat, in den USA nicht weniger als in der Schweiz.

Zweitens ist das Gewaltmonopol hier sowieso irrelevant, es geht hier um Notwehr und Notwehrhilfe. Im Unterschied zu vielen hier [im Ständerat] Anwesenden habe ich nicht Recht studiert, ich weiss aber, dass das Gewaltmonopol bei Notwehrsituationen nicht gilt. Das Gleiche gilt für die Aussage, es sei Sache der Polizei, die Bürger wirksam zu schützen. Tatsache ist: Die Polizei hat keine Pflicht, die Bürger wirksam zu schützen, sonst wäre ja jedes Gewaltdelikt der Beweis einer nicht erfüllten Amtspflicht. Dass die Polizei diese Pflicht nicht hat bzw. gar nicht wahrnehmen kann, hat einen so einfachen wie objektiven Grund – praktisch alle Gewaltdelikte sind in weniger als dreissig Sekunden entschieden.

Weiter schreibt der Bundesrat: «Auch praktische Gründe sprechen gegen den Einsatz von Schusswaffen zum Selbstschutz: die potenzielle Gefährdung von Familienmitgliedern oder Dritten durch eine Schusswaffe im Haushalt sowie die fehlende Fertigkeit in der Handhabung einer Feuerwaffe.»

Die These, dass privat besessene Schusswaffen Familienmitglieder und Drittpersonen gefährden, erscheint mir – erstens – ziemlich abenteuerlich. Dass die Schweiz eine sehr hohe Waffendichte und gleichzeitig eine tiefe Gewaltquote hat, ist ja allgemein bekannt. Zweitens wäre diese Aussage auch dann kein Argument gegen bewaffnete Notwehr, wenn sie stimmen würde. Aus der Gefahr für Drittpersonen folgt ja nicht die Nutzlosigkeit von Selbstschutz.

Zur Aussage, dass wir wegen fehlender Fertigkeiten in der Handhabung einer Feuerwaffe von bewaffnetem Selbstschutz abraten müssen: Ich sage nicht, dass das nicht stimmt. Es wäre einfach dringend nötig, zu erfahren, aufgrund welcher Fakten der Bundesrat das schreibt. Denn wenn es stimmt, dann haben wir ein Problem, dann müssen wir auch bei der Milizarmee gründlich über die Bücher. Wir bilden jedes Jahr eine fünfstellige Anzahl Personen an einer Waffe aus. Diese Frauen und Männer müssen nicht nur ihre Waffe beherrschen, sie müssen anspruchsvolle Aufgaben zur Landesverteidigung erfüllen.

Wenn es so ist, dass die RS und WK diese Frauen und Männer nicht befähigen, in Zivil eine Waffe zweckmässig zum Selbstschutz einzusetzen, was heisst das dann für die Kampftauglichkeit unserer Truppe, umso mehr, als der Gebrauch der Waffe zum Selbstschutz die Basis der Schiessausbildung darstellt?

Für 2020 weist die Kriminalstatistik 1592 Opfer von schwerer Gewalt aus. Wir wissen alle, dass es in Tat und Wahrheit deutlich mehr sind; betroffen sind vor allem weibliche Personen. Jeden Tag werden in der Schweiz zig Menschen mit einer Gewaltsituation konfrontiert, in der es für ihr Weiter- oder gar Überleben entscheidend ist, was sie tun. Dass es nicht geht, dass diesen Leuten etwas Falsches, ja Kontraproduktives geraten wird, darüber sollte in diesem Saal eigentlich Einigkeit herrschen. Dazu käme eben auch noch das Problem der Milizarmee.Ich sage nicht, dass die von mir zitierten Studien unfehlbar seien. Ich sage auch nicht, dass sich ihre Ergebnisse mit hundertprozentiger Sicherheit eins zu eins auf die Schweiz übertragen lassen. Ich sage nur: Der Bundesrat hat keine auch nur ansatzweise überzeugende Antwort geliefert, warum diese Studien keine Aussagekraft für die Schweiz haben sollen und warum hier das Gegenteil richtig sein soll.