Apropos Weihnachten: Wer lieben will, muss hassen können

Egal, ob man Christi Geburt feiert oder das «Fest der Liebe»: Hass, Wut und Gewaltbereitschaft sind nicht das Gegenteil von Liebe, sondern deren Voraussetzung.

Von Lukas Joos

Weihnachten steht vor der Tür. Deutsche Katholiken warnen: «Gegenwärtig wird Weihnachten als ‹Fest der Liebe› vermarktet und läuft Gefahr, als reines Geschenke- und Familienfest seinen christlichen Inhalt zu verlieren.»

Damit haben sie sicher recht. Die aus katholischer Sicht gefährliche Tendenz, christliche Feiertage zu ent-biblisieren, ist unbestritten. Weniger Aufmerksamkeit erhält hingegen eine andere, vermutlich unheilvollere Zeiterscheinung: jene, Liebe mit Nettigkeit zu verwechseln.

Glaubt man prominenten Vertretern der Mehrheitsgesellschaft, beginnt Liebe gewissermassen dort, wo Negativemotionen aufhören. Hass, Rachelust und Gewaltbereitschaft sind zu überwindende Defizite, abzuwerfender Ballast. Bei den Bürgerlichen tönt es nicht anders als bei den Linken. «Wut, Hass und Drohungen gehören nicht zur Schweiz», sagte Bundesrat Alain Berset am letzten Abstimmungssonntag. Zwei Monate zuvor hatte SVP-Präsident Marco Chiesa verkündet: «Ich verurteile jede Form von Gewalt.»

So grundvernünftig diese Aussagen klingen, so bizarr sind sie. Was ist mit der Wut der Eltern, deren Kleinkind von einem Erzieher missbraucht wird? Was mit dem Hass auf jene, die Väter vor den Augen ihrer Kinder halb totschlagen – ohne jeglichen Grund? Und was mit der Gewalt, zu deren Verübung jeder Milizsoldat verfassungsmässig verpflichtet ist?

Nur bitte kein Fest der Nettigkeit

Der Politologe und Kriminologe James Q. Wilson definierte Sympathie als «menschliches Vermögen, durch die Gefühle und Erfahrungen anderer betroffen sein zu können.» In seinem Standardwerk The Moral Sense legte er dar, dass Sympathie – als offensichtliche Voraussetzung der Liebe – eine Münze mit zwei Seiten ist. Sympathie kann sich in Besorgtheit oder Zärtlichkeit manifestieren, aber eben genauso gut auch in Wut und Rachedurst. Illustrierend führte er das Beispiel eines Mannes an, der dabei lacht, wie er ein Baby foltert: Wer Zeuge wird, dessen erste Reaktion werde kaum Mitgefühl für das Opfer sein, sondern Wut auf den Täter.

Für das Opfer ist entscheidend, dass dieser Zeuge zuerst mit negativen, auf den Täter bezogenen Emotionen reagiert. Wilson führt das zwar nicht explizit aus, aber es liegt auf der Hand. Je mehr Hass und Wut der Zeuge empfindet, desto eher greift er den Babyquäler sofort und massiv an. Und je eher und stärker sich dieser darauf konzentrieren muss, seine Haut zu retten, desto schneller und sicherer endet für das Baby die Tortur.

Wo «Wut, Hass und Drohungen keinen Platz haben», sind Mitgefühl, Zuneigung und Liebe wertlos. Wo «jede Form von Gewalt verurteilt wird», hat das Böse, Niedere und Perverse freie Bahn. Wer lieben will, muss schützen wollen, und wer schützen will, muss hassen können.

Der Christ feiere die Geburt seines Erlösers, der Säkulare das «Fest der Liebe» – nur bitte nicht das Fest einer teilnahmslosen, kalten, geradezu anti-menschlichen Nettigkeit. Schöne Weihnachten!

Erstveröffentlichung im Nebelspalter, Ausgabe 23. Dezember 2021